Folke Tegetthoff
Macht sich unermüdlich für Märchen und Mythen stark: Folke Tegetthoff.
Christian Jungwirth

Märchen sind anonyme, ursprünglich nur mündlich überlieferte Geschichten, die sich durch eine Sache auszeichnen: Objektiv gesehen sind sie unwahr. Dennoch rufen ihre fantastischen und unerhörten Ereignisse Staunen hervor. Wen wundert es also, dass sich diese Gattung durch alle Kontinente zieht? Einer, der sich dieser literarischen Form annimmt, ist Folke Tegetthoff. Sein literarisches Werk besteht aus rund 100 Einzelpublikationen, die sich alle mit archaischen Strukturen auseinandersetzen. 1989 rief er außerdem das "Austrian International Storytelling Festival" ins Leben, das sich über die Jahre zu Europas größtem internationalen Storytelling-Festival entwickelte.

STANDARD: Die Geschichtsschreibung beweist: Spiel und künstlerischer Ausdruck sind ein ursprünglich menschliches Bedürfnis. Die Kinder aller Völker spielen, und Religionen aller Welt bedienen sich der Macht des Rituals. Das geht von der Geburt bis in den Tod. Warum, glauben Sie, benötigen wir Menschen diese Narrationen?

Tegetthoff: Sie gehen als "Märchenwissenschafterin" rational und intellektuell an "das Märchen" heran. Ich repräsentiere die Praxis und muss Ihnen sagen: Nichts ist anonym, nichts ist "unwahr", denn dies würde bedeuten, dass Märchen irgendwie irgendwo entstehen und mit Lüge gleichzusetzen sind. Der Mensch braucht keine Narration (zu erfinden), er selbst ist eine, und eine der wunderbarsten Formen, dieses "Menschsein" zu materialisieren, ist der Mythos, die Mär, das Märchen. Aber lassen Sie mich Ihre von den üblichen Bildern der Ratio geprägten Annahmen geraderücken und in den subjektiv für mich richtigen Kontext bringen.

STANDARD: Sehr gern.

Tegetthoff: Zunächst: Märchen, sagen Sie in der Einleitung, seien unwahr. Wenn Sie die unfassbarste und für mich großartigste Kraft des Menschen, die all unsere Vorstellungen, Erwartungen und den Glauben hervorzubringen imstande ist, nämlich die Fantasie und deren Bilder, als Lüge bezeichnen, hätten Sie recht. Sie, die Fantasie, erschafft jenes gesamtheitliche Bild, das es uns Menschen erst ermöglicht, zu existieren und zu überleben. Diese Bilder sind – für mich – genauso real und "wahr" wie die Bilder, die meine Sinne mir liefern. Diese durch die Fantasie in uns entstehenden Bilder stehen im Einklang – nicht im Widerspruch – mit der Ratio, die mithilfe der Erkenntnisse der Sinne einordnet und daraus "die Wahrheit" entstehen lässt. Aber niemand, weder der Handwerker noch die Wissenschafterin oder der Hausmann, kommt in seinem Alltag ohne die Kraft der Fantasie aus, die die engen Grenzen der Wissenschaft und des rationalen Denkens zu überwinden imstande ist, um damit Neues, Unbekanntes, Unvorstellbares zu entdecken. Weiters setzen sich Märchen auch nicht mit archaischen Strukturen auseinander. Denn diese Feststellung impliziert, dass ich beim Schreiben eines Märchens – Gattung: Kunstmärchen – meinen Geist nutze, dass ich mit angelesenem Wissen arbeite, nein, ich vertraue ausschließlich meiner Intuition und meinen eigenen Erkenntnissen und Erfahrungen.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, dass Märchen für Sie eigentlich Texte für Erwachsene sind. Wie können Sie diese Theorie untermauern?

Tegetthoff: Ich sagte nicht "eigentlich", sondern dass Märchen sich über Jahrtausende ausschließlich an Erwachsene richteten. Dies ist keine Theorie, die es zu untermauern gilt, weil sich diese Tatsache aus der Menschheitsgeschichte heraus erklärt. Der Begriff von "Kindheit", wie wir ihn heute verwenden, ist relativ jung und begann im 17./18. Jahrhundert durch die "Erfindung" der Pädagogik, in weiterer Folge durch die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht und anderer Einflüsse. So entstand die Erkenntnis, dass Kinder eigenständige Wesen sind und nicht nur "unfertige Erwachsene". Damit einhergehend kamen die Gebrüder Grimm, beide (Mit-)Begründer der Germanistik, also der Sprachwissenschaft, zu dem Schluss, dass die älteste Form der Verschriftlichung urmenschlichen Ausdrucks, also der Märchen, sich eignen würden, um Eltern eine Erziehungshilfe in die Hand zu geben. Und da die Grimm Brothers den Kleinen weder Sex noch klare philosophische Wertehaltungen zumuten wollten, wurde zensuriert und moralisiert und umgeschrieben. Trotzdem ist es das Verdienst der Grimms, dass sie das Märchen am Leben erhielten. Man darf aber auch nicht außer Acht lassen, dass durch das Aufschreiben ein ursprünglicher Aspekt von Märchen verlorenging, nämlich jener der Adaption: Durch die mündliche Weitergabe konnte sich das Märchen, wie ein lebendiger Organismus jeweiligen Situationen und neuen Strukturen anpassen. Mit der Niederschrift war es dieser Möglichkeit beraubt. Aber: Das Märchen reinkarnierte als "Kunstmärchen", wie ich es nenne. Es suchte sich einen Weg zu neuem Leben, indem es zum individuellen Ausdruck von Dichtern wurde.

STANDARD: Sie sind nicht nur ein umtriebiger Autor, sondern auch einer, der seine Märchen erzählt und über 5000-mal auf allen Kontinenten performte. Was macht einen guten Erzähler aus?

Tegetthoff: Als 1979 mein erstes Märchenbuch erschien, war es für mich klar, dass ich damit nicht nur mein Debüt als Schriftsteller, als Märchendichter geben würde, sondern von diesem Zeitpunkt an auch "Märchenerzähler" sein müsse. Es war meine Intuition, die mir das sagte, nicht meine Ratio. Wäre ich meiner Ratio gefolgt, wäre ich stumm geblieben – ich galt während meiner Schulzeit als Stotterer, wie sich herausstellte kein physisches, wie man meinte, sondern ein psychisches Problem, weil, wie ich in der Folge herausfand, meine Fantasie immer unterdrückt worden war, also ein Ungleichgewicht zwischen meiner inneren und äußeren Stimme herrschte. Als ich dann am 13. Feber 1979 zum ersten Mal auf der Bühne stand – schon das war für mich unfassbar –, schoss mit dem Öffnen meines Mundes für das Aussprechen des ersten Wortes des ersten Märchens ein Blitz in meinen Kopf und ich war in diesem Augenblick "Erzähler"!

STANDARD: Ich lernte Sie als Zehnjährige bei Ihrem Projekt "Käpt’n Kano" kennen. Damals gewann ich mit einer Kurzgeschichte eine Reise ins Disneyland Paris – das war einer der Gründe, warum ich später Autorin geworden bin. Was, denken Sie, kann man für junge Menschen tun, um ihnen die Freude am Erzählen nahezubringen?

Tegetthoff: Ich finde, dass die jetzige junge Generation, und da schließe ich die bis 30-Jährigen noch mit ein, so viel erzählt wie keine andere Generation zuvor. Natürlich erzählen sie anders als unsere Vorstellung davon, wie ein Akt von Kommunikation auszusehen hat, aber ich möchte mir nicht anmaßen, hier eine Bewertung durchzuführen, ob das Schreiben eines Briefes oder ob das Erzählen einer Geschichte im Freundeskreis "besser" sei, als auf Social Media einen Post zu machen. Ich würde es lieber sehen, die Frage abzuändern in: "Was können wir tun, um nicht nur jungen, sondern allen Menschen die Freude am Zuhören nahezubringen?" – Denn darum geht es letztendlich. Alle wollen nur noch etwas von sich geben, in welcher Form auch immer, aber die wenigsten sind bereit, anderen zuzuhören, ein Gegenüber wahrzunehmen. Das ist das wahre Problem unserer Gesellschaft, die immer egozentrierter wird.

STANDARD: Wie stehen Sie zur KI?

Tegethoff: Grundsätzlich finde ich (fast) jede Neuerung zunächst faszinierend, weil sie beweist, dass ein ungeheuer kreativer, also Fantasieprozess stattgefunden haben muss, mit dem Ziel, unsere Welt ein Stück weiterzubringen, ein Stück besser zu machen. Dass dies so ist, beweist unsere Vergangenheit: Die Industrialisierung wurde als Machwerk des Teufels dargestellt, und heute wissen wir, sie hat die allgemeinen Lebensbedingungen von Milliarden Menschen dramatisch verbessert. Der Eisenbahn, dem Automobil, dem Computer wurden zunächst keine Zukunftschancen eingeräumt, und doch waren sie es, die den Fortschritt des Menschen unglaublich beschleunigt haben – natürlich, wie wir heute wissen, zu einem sehr hohen Preis, den wir als Klimaveränderung serviert bekommen. Diese für den Planeten lebensbedrohende Veränderung wird jedoch – wie in den 100.000 Jahren zuvor, als der Mensch mit außergewöhnlichen Situationen konfrontiert war – zu einer Flut an Fantasieleistungen führen, dieses von unserem Fortschrittswahn verursachte Problem zu lösen. Dazu gehört auch KI. Sie wird alle Bereiche unseres Lebens nachhaltig verändern. Aber – wie bei allem – es liegt an uns, den Einsatz von KI im Alltag zu lenken. Diese neue Errungenschaft zwingt uns, die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung zu schärfen, wie ich meiner Umgebung und deren Bewertung gegenübertrete – das sehe ich als die größte Herausforderung für uns in der Auseinandersetzung mit KI. (Sophie Reyer, 3.2.2024)