Es ist eine der größten Fragen der Evolution: Hätte sich das Leben, das vor rund drei Milliarden Jahren auf unserem Planeten begonnen hatte, auch ganz anders entwickeln können? Eine der bekanntesten Fassungen erhielt dieses Gedankenexperiment durch den großen Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould in seinem Buch "Zufall Mensch" (engl. "Wonderful Life", 1989): Würden auch bei einem zweiten "Versuch" Giraffen und Schmetterlinge auftauchen? Und würden sich abermals intelligente, zweibeinige Wesen auf der Erde entwickeln, die ein Buch wie "Don Quijote" schreiben könnten?

War es reiner Zufall, dass sich aus einem affenartigen Wesen der moderne Mensch entwickelte?
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Im Grunde lassen sich diese Fragen, die nicht nur Gould, sondern viele andere seiner Kolleginnen und Kollegen seit Charles Darwin umtrieben, auf eine einzige reduzieren: Ist die Evolution rein vom Zufall bestimmt oder doch – wie und wie sehr auch immer – vorherbestimmt? Die Frage scheint auf den ersten Blick experimentell unbeantwortbar. Doch seit fast 36 Jahren läuft eines der originellsten und gewagtesten Experimente der Wissenschaftsgeschichte, das zumindest gewisse Anhaltspunkte verspricht.

Fast 80.000 Bakteriengenerationen

Der US-Evolutionsbiologe Richard Lenski (Michigan State University) begann am 15. Februar 1988 damit, zwölf Populationen identischer Bakterien in unabhängigen Behältern und einer speziellen Nährlösung aus Wasser, Salzen und Glukose zu kultivieren, um ihre Anpassung daran und ihre genetische Weiterentwicklung aus erster Hand zu studieren. Das Projekt sollte ursprünglich nur wenige Monate dauern, aber die ersten Ergebnisse waren so verblüffend, dass dieses Experiment bis heute läuft und zum vielleicht bekanntesten der Evolutionsbiologie geworden ist. Mittlerweile hält man bei fast 80.000 Generationen, was – auf den Menschen umgelegt – der Menschheitsentwicklung der letzten gut eineinhalb Millionen Jahren seit Homo erectus entspricht.

Richard Lenski Zachary Blount E. coli.
Evolution(sbiologen) in Aktion: Richard Lenski (re.) und sein Mitarbeiter Zachary Blount sowie einige Generationen E. coli.
Brian Baer, Michigan State University, PLoS One 2015

Bei dem untersuchten Bakterium handelt es sich um Escherichia coli, das im menschlichen Verdauungsapparat vorkommt und das täglich fast sieben neue Generationen hervorbringt. Die Forschenden müssen die Nährlösung der Mikroben jeden Tag wechseln, egal ob es ein Feiertag, ein Wochenende oder mitten in den Sommerferien ist. Die zwölf Populationen existieren bis heute weiter, aber sie haben sich in der Zwischenzeit sehr verändert. So lernte eine der Kolonien in der 31.500. Generation, sich von Natriumcitrat zu ernähren, einem der Bestandteile der Nährlösung, den diese Bakterienart eigentlich nicht verstoffwechseln kann. Es entstand damit de facto eine neue Art, allerdings nur in einer der zwölf Populationen, wie Lenski und sein Team 2008 berichteten.

Die Forschenden beschränken sich dabei aber nicht nur darauf, die Bakterien zu züchten und ihre Evolution zu verfolgen. Alle 500 Generationen nehmen sie Proben der Bakterien und frieren sie ein – eine einzigartige Fundgrube für Fachleute, denn die Bakterien lassen sich wieder auftauen und zum Leben erwecken. Auf diese Weise lässt sich erforschen, was seit 1988 genetisch geschehen ist, um im Kleinen Antworten auf die große Eingangsfrage zu finden: Hätte alles auch anders kommen können?

Veritasium-Video über das am längsten laufende Evolutionsexperiment
Würde die Evolution wieder den Menschen hervorbringen?
Veritasium

Gleich zwei Forschergruppen wollten anhand der konservierten Bakterien von Lenski – zunächst unabhängig voneinander – auf neue Weise Antworten finden: ein Team um den spanischen Biologe Alejandro Couce (Polytechnischen Universität Madrid) und ein anderes um den Harvard-Bioinformatiker Michael Baym. Couce und sein Team tauten einige der frühen Mikrobenproben auf und vermehrte sie, um an ihnen die Folgen von Mutationen zu testen. Auf die Evolution des Menschen umgelegt entspräche das in etwa dem Einbringen von Mutationen bei Homo erectus, der vor mehr als 1,5 Millionen Jahren lebte, um zu beobachten, ob diese Mutationen zu einem Neandertaler, einem Homo antecessor oder einem Homo sapiens führen würden.

Erste Anpassungen sind vorhersehbar

Beide Teams veröffentlichten unabhängig voneinander Preprints ihrer Arbeiten, taten sich dann aber für eine vor kurzem erschienene Publikation im Fachblatt "Science" zusammen. Das Kernergebnis der aufwendigen Experimente: Es ließen sich bis zu 75 Prozent der ersten Anpassungsschritte der Bakterien vorhersagen, wie Couce im Interview mit der spanischen Zeitung "El País" erklärt. Solange die Bedingungen konstant bleiben – wie eben bei Lenskis Bakterienkulturen –, würde die Musik des Lebens immer dasselbe Lied spielen – oder genauer: mit ganz ähnlichen Akkorden beginnen.

Lenski, ein Mitautor der neuen Studie, ist bei den Schlussfolgerungen und bei der Übertragung auf die Evolution auf unserem Planeten etwas vorsichtiger. Bei seinem Experiment würden seit 1988 Tag für Tag die gleichen, vollständig kontrollierten Bedingungen herrschen, während es auf der Erde Klimaveränderungen, Asteroideneinschläge und endlose Interaktionen zwischen den Lebewesen gibt. Er zeigt sich zwar durchaus angetan von den neuen Ergebnissen, bremst aber: Die Wissenschaft sei noch weit davon entfernt, die Evolution in der riesigen und komplexen natürlichen Welt vorhersagen zu können. "Aber so funktioniert die Wissenschaft nun einmal: Sie kommt schrittweise voran und löst nicht alles auf einmal."

"Eine faszinierende Mischung"

Für Lenski ist es dementsprechend auch fraglich, ob das von Gould formulierte Rätsel jemals gelöst werden wird. "Diese neuen Daten sowie andere Ergebnisse des Experiments, das ich 1988 begonnen habe, zeigen, dass die Evolution selbst unter diesen einfachen Bedingungen eine reiche und faszinierende Mischung aus Vorhersehbarem und Unvorhersehbarem hervorbringt. Ich vermute, dass dasselbe passiert, wenn man die Evolution auf den großen planetarischen Maßstab ausdehnt, an den Gould dachte", sagt der Forscher.

Couce geht es freilich weniger um Antworten auf die ganz große Frage der Evolution als um einen Beitrag zur Lösung eines der größten Gesundheitsprobleme, vor denen wir stehen: dem Auftreten von Antibiotikaresistenzen bei pathogenen Bakterien, das hunderttausenden Menschen jährlich das Leben kostet. Die Ergebnisse der neuen Studie liefern zwar noch keine konkreten Antworten, aber sie legen nahe, dass solche Vorhersagen im Prinzip möglich sind. (tasch, 3.2.2023)