Veganismus, Fleisch
Fleischersatzprodukte, wie hier eine vegane Curry-Wurst, seien wichtig, um kulturelle Gewohnheiten fortzuführen, sagt Cachelin.
AP/Michael Probst

Wie sähe eine Welt aus, in der alle Menschen vegan leben? In der wir nicht nur bei Lebensmitteln, sondern auch bei Kleidung und allen anderen Bereichen komplett auf tierische Produkte verzichten? Der Schweizer Zukunftsforscher und Ökonom Joël Luc Cachelin stellt sich so eine Zukunft vor. In seinem kürzlich erschienenen Buch "Veganomics" entwirft er einen fiktiven veganen Staat. Dort haben vier Inseln eine jeweils andere Richtung bei der Ernährung eingeschlagen.

Eine Umstellung der Ernährung sei angesichts einer steigenden Weltbevölkerung und eines dementsprechend zunehmenden Fleischkonsums jedenfalls erforderlich, sagt Cachelin. Wie diese Umstellung gelingt, sei jedoch noch fraglich.

STANDARD: In Ihrem Buch "Veganomics" zeichnen Sie zunächst ein sehr düsteres Bild von der Zukunft. Wir sind im Jahr 2045, und die Erde durchlebt mehrere Krisen. Wie kommt es dazu?

Cachelin: In dieser fiktiven Zukunft kommt eine dreifache Pandemie auf die Menschheit zu: eine Pandemie der Nutztiere, der Nutzpflanzen und der Menschen. Dadurch beginnen sich die Menschen ernsthaft Gedanken darüber zu machen, was ihr Verhältnis zu den Nutztieren ist und welche Landwirtschaft sie betreiben wollen. Es gibt einen Teil der Menschheit, der beschließt, aufgrund dieser Pandemien eine vegane Zukunft zu beginnen.

STANDARD: Sie bezeichnen diese Pandemien als Schlüsselereignis. Braucht es so ein Schlüsselereignis Ihrer Meinung nach, um unser Verhältnis zu unserem Essen zu verändern?

Cachelin: Der Mensch ist ein Lebewesen, das zwar grundsätzlich sehr veränderungsfähig und -willig ist. Dennoch ist es für uns immer einfacher, durch eine unerwartete Krise unser Verhalten zu verändern. Wir haben das in den letzten Jahren bei der Corona-Pandemie sehr plastisch erlebt. Plötzlich haben sich Dinge verändert, über die man vorher sehr lange diskutiert hat, wie beispielsweise das Homeoffice. So ein Schock kann eine Verhaltensveränderung bewirken. Ich gehe davon aus, dass das vielleicht auch bei der Ernährung der Fall sein muss.

STANDARD: In Ihrem Buch bezeichnen Sie diese Umstellung als vegane Revolution. Das klingt nicht gerade nach einem friedlichen Prozess …

Cachelin: Es gibt beim Thema Veganismus sicher viel Diskussionsbedarf. Manche Familien kennen das heute schon: vom Weihnachtsessen, wo plötzlich nicht mehr ein Menü serviert werden kann, sondern alle am Tisch einen anderen Ernährungsstil haben. Gesellschaftlich gesehen gibt es einerseits jene Menschen, die noch ein konservatives und häufig romantisiertes Bild von Landwirtschaft haben, für die Ernährung noch sehr stark mit Fleisch und mit Milchprodukten verbunden ist und die sich gar nichts anderes vorstellen können. Diesen gegenüber stehen plakativ gesagt eher jüngere Menschen aus der Stadt, die sich heute schon ganz anders ernähren.

STANDARD: Warum scheint Veganismus ein so emotionalisierendes Thema zu sein?

Cachelin: Eine große Rolle spielen Vorurteile. Ein Vorurteil ist, dass eine vegane Ernährung die Menschen völlig entkräftet. Eine vegane Ernährung mache dumm und schwach, weil der Körper einfach nicht funktionieren kann ohne Fleisch und Käse. Ein anderes Vorurteil besagt, die ganze Evolution der Menschheit zur intelligenten Zivilisation beruhe auf Fleischkonsum. Dieses Argument ist in der Wissenschaft mittlerweile sehr umstritten. Viel wichtiger für die Evolution war die Kommunikation beziehungsweise das Teilen und Speichern von Wissen. Neben diesen Vorurteilen gibt es eine starke kulturelle Verankerung von Fleisch. Es gehört zu Weihnachten und Ostern dazu und ist ein Statusprodukt, mit dem man sich von anderen abgrenzt.

STANDARD: Sie haben einmal in einem Interview gesagt, dass Fleischessen auch ein sehr männliches Thema ist. Inwiefern?

Cachelin: Fleisch wird schon lange mit Stärke assoziiert. Das Blut des roten Fleisches soll Kraft verleihen. Im Industriekapitalismus mussten die Männer ausdauernd und kräftig sein. Die Verknüpfung von Fleisch und Kraft wirkt bis heute. Männer, die sich heute als Veganer outen wollen, sind gemäß Studien oft noch gehemmt. Sie denken: Wenn ich kein Fleisch esse, stehe ich als "weich" und "weiblich" da. Das Geschlecht ist aber nur eine kulturelle Dimension des Veganismus. Vegan sind zwar mehrheitlich Frauen und queere Menschen, sie sind aber vor allem auch gut gebildet und leben in der Stadt.

STANDARD: In Ihrem Buch beschreiben Sie vier fiktive Inseln, die eine weitgehend fleischlose Ernährung haben. Wie leben die Menschen auf diesen Inseln?

Cachelin: Auf Chlorella funktioniert alles mit Pflanzen, Wurzeln und Kernen. Auch Algen und Pilze spielen eine wichtige Rolle. Mit diesen Rohstoffen ernährt man sich nicht nur, sondern man stellt auch Kleidung und Möbel her. Auf den sogenannten Hightech Islands dreht sich alles um neue Technologien. Da wird Fleisch, aber auch Fisch und Käse im Labor hergestellt. Auf der Insel Tenebrio wiederum werden vor allem Insekten gegessen – oder generell Lebewesen, die ein nicht so gut ausgebildetes Nervensystem haben, wie Quallen oder Muscheln. Zirkula schließlich ist eine konsequente Kreislaufwirtschaft. Dort essen die Menschen nach wie vor Tiere, aber nur, wenn sie eines natürlichen Todes gestorben sind. Auch invasive Arten wie Grauhörnchen, nicht heimische Krebse oder Nilgänse werden zum Essen freigegeben.

STANDARD: Wozu braucht es solche Szenarien?

Cachelin: Es ist eine Standardtechnik der Zukunftsforschung, solche Szenarien zu entwickeln. Sie erlaubt, plastische Varianten der Zukunft zu erzählen. Mir war es wichtig zu zeigen: Es gibt nicht eine bestimmte vegane Zukunft, die von irgendwem vorgeschrieben wird, sondern verschiedene Möglichkeiten, uns anders zu ernähren und uns anders zu kleiden.

Veganismus, Zukunft
Joël Luc Cachelin glaubt, dass es rund um Veganismus noch viel Diskussionsbedarf gibt.
Maximilian Lederer

STANDARD: Manche Ihrer Szenarien sind durchaus gewagt. Auf der Insel Zirkula beispielsweise kleiden sich die Menschen mit den Pelzen ihrer toten Katzen.

Cachelin: Ich weiß nicht, ob in unserer Welt wirklich jemand seine tote Katze zum Mantel verarbeiten würde. Es ging eher darum, aufzuzeigen, dass auch bei unseren Haustieren Rohstoffe anfallen. Aus einer Kreislaufwirtschaftsperspektive wäre es sehr dumm, diese Ressourcen einfach zu verbrennen statt zu nutzen. Hauskatzen würden wir in Zukunft kaum essen. Bei anderen Tieren ist es jedoch durchaus realistisch, in Gemeinschaft mit diesen zu leben und sie viel später zu töten, als es heute der Fall ist. Bei Kühen oder Schweinen gilt es heute schon als Delikatesse, Tiere zu verarbeiten, die sehr lange gelebt haben.

STANDARD: Auch Insekten gelten hierzulande nicht gerade als Genussspeise.

Cachelin: In Asien gehören Insekten wie Heuschrecken oder große Würmer schon lange selbstverständlich zur Ernährung. Bis sich das in Europa durchsetzen wird, braucht es sehr lange Zeit und viel Veränderungswillen von den Menschen. Verarbeitete Insekten, etwa in Form von Insektenmehl, werden aber durchaus eine Rolle spielen, beispielsweise auch in der Ernährung von Nutztieren oder von Fischen. Die Insektenproduktion ist wesentlich umweltfreundlicher als die Produktion vieler anderer Futtermittel.

STANDARD: Einige argumentieren, dass eine vegane Ernährung nicht immer gesund ist, speziell, wenn Menschen stattdessen hochverarbeitete Ersatzprodukte essen. Welche Rolle spielen Ersatzprodukte in Ihrer Zukunftsvorstellung von einer veganen Welt?

Cachelin: Ersatzprodukte sind aus zwei Gründen wichtig: einerseits, weil wir so kulturelle Gewohnheiten fortführen können. Man kann zum Grillfest kommen und eine pflanzliche Wurst mitbringen und muss sich dadurch in der Welt der Fleischesser weniger exponieren. Andererseits hat es auch viel mit Fastfood und Bequemlichkeit zu tun. Es ist einfacher, sich eine vegane Wurst zu grillen, als ein aufwendiges indisches Curry zu kochen.

STANDARD: In Ihrem Zukunftsszenario einer weitgehend veganen Welt sollen Tiere nicht nur bei Nahrungsmitteln, sondern auch bei Kleidung oder bei medizinischen Versuchen ersetzt werden. Wie soll das funktionieren?

Cachelin: Tierversuche können durch Computermodelle ersetzt werden, die womöglich ein besseres Modell für den menschlichen Körper sind als beispielsweise eine Maus oder ein Affe. Bei Textilien und Möbeln kommen vermehrt Pflanzen wie Brennnesseln, Leinen oder Baumwolle statt beispielsweise Leder zum Einsatz. Natürlich kann es Zielkonflikte geben: Denn Baumwolle braucht beispielsweise sehr viel Wasser und ist deshalb nicht immer nachhaltig. Eine Welt mit mehr Plastik ist ebenfalls nicht erstrebenswert.

STANDARD: Was passiert mit jenen Landwirtinnen und Landwirten, die derzeit tierische Produkte herstellen, in einer solchen veganen Zukunft?

Cachelin: Es müssen sich nicht nur Landwirtinnen und Landwirte, sondern auch sehr viele andere Berufe, die mit tierischen Rohstoffen arbeiten, verändern. Sie müssen mit neuen Rohstoffen und Bedürfnissen klarkommen. Die Einzigen, die wirklich ihren Job verlieren werden, sind die Metzgerinnen und Metzger, denn die braucht es in einer größtenteils fleischlosen Zukunft kaum noch. Auf die anderen Berufe können Staaten unterstützend einwirken, etwa mit Weiterbildungen oder Subventionen. Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten eine riesige Transformation erfolgreich durchgelaufen: die digitale Transformation. Auch hier hat man argumentiert, dass sehr viele Leute ihren Job verlieren werden. Stattdessen sind mehr Jobs entstanden, als verloren gegangen sind. Außerdem geht eine solche Umstellung oft nicht so schnell, wie gewisse Zukunftsforscherinnen und Experten behaupten. Es bleibt also Zeit für Anpassung.

STANDARD: Tatsächlich ist der Anteil an Veganerinnen und Veganern in der Bevölkerung derzeit noch extrem klein. Die weitaus größere Gruppe ist jene der Flexitarierinnen und Flexitarier: Menschen, die ihren Fleischkonsum bewusst reduzieren. Wird das nicht eher die Zukunft sein?

Cachelin: Die Frage ist, ob das reichen wird, vor allem im globalen Maßstab. Je nach Statistik ist die Nutztierhaltung für ungefähr 15 Prozent des weltweiten Treibhausgasausstoßes verantwortlich. Zudem braucht die Produktion des Futters der Nutztiere sehr viel landwirtschaftliche Flächen. Die industrielle Produktion von Fleisch und Käse schädigt die Böden und das Trinkwasser, sie verursacht Antibiotika-Resistenzen. Dazu kommt: Im globalen Maßstab nimmt der Fleischkonsum weiter zu, bis Mitte des Jahrhunderts wird die Weltbevölkerung um etwa weitere 25 Prozent wachsen. Es wird kaum reichen, wenn wir in Österreich oder der Schweiz etwas weniger Käse und Fleisch essen.

STANDARD: Wie realistisch ist der Wandel hin zu einer Ernährung, die weitgehend ohne Fleisch auskommt?

Cachelin: Mittelfristig ist das sehr realistisch, weil es aus meiner Sicht keine Alternative gibt. Die Frage ist, wie sich der Weg dorthin gestaltet. Es ist möglich, dass die Menschen ihre Kaufgewohnheiten anpassen oder dass die Politik interveniert, etwa mit höheren Steuern auf Fleisch und Käse oder indem sie Fleisch und Käse aus dem Labor fördert. Das wäre der vergleichsweise weiche Weg. Der harte Weg ist der, den ich anfangs erwähnt habe: dass es neue Pandemien, Hitzewellen, eine Antibiotikaresistenz-Krise oder andere Schocks braucht, damit eine globale Ernährungsänderung passiert.

STANDARD: Könnte sich eine vegane Ernährung auch jeder leisten?

Cachelin: Vegane Ersatzprodukte sind absurderweise heute häufig teurer als Fleischprodukte. Das ist zum Teil auch staatlich unterstützt: Die Mehrwertsteuer auf Hafermilch ist zum Beispiel höher als auf Kuhmilch. Die Gesetze der Skalierung werden aber dafür sorgen, dass vegane Produkte in den nächsten Jahren deutlich billiger werden. Und man kann sich auch sehr einfach vegan ernähren, indem man etwa viel Salat, Gemüse und Früchte isst. Veganismus kann wahnsinnig unspektakulär sein. Er verlangt aber, sich ein bisschen mehr Zeit zu nehmen, um zu überlegen, was man sich am Abend kocht oder welche Kleider und Möbel man sich kaufen will. (Jakob Pallinger, 3.2.2024)