Hat technische Superkräfte: Evgeny Kissin, Pianist.
Hat technische Superkräfte: Evgeny Kissin, Pianist.
Dieter Nagl/Musikverein

Es ist nun schon ein Weilchen her, dass zwei russische Jungstars erstmals im Westen gemeinsam für Furore sorgten: Vor 36 Jahren hatten Evgeny Kissin, damals Pianistenwunderkind der Stunde, und der aufstrebende Dirigent Valery Gergiev das Londoner Publikum verzückt. Heute scheint ein Wiedersehen der beiden Künstler so unwahrscheinlich wie ein Treffen von Eisbär und Pinguin in freier Wildbahn: Russlands Überfall auf die Ukraine hat die zwei aus­einanderdividiert. Gergiev? Ist wegen seines Schweigens zu Putins Angriffskrieg aller Posten im Westen verlustig gegangen, dafür aber zu einer Art Klassik-Imperator zwischen Moskau und Sankt Petersburg aufgestiegen. Kissin wiederum, seit langem im Westen wohnhaft, ist zu einem scharfzüngigen Putin-Kritiker avanciert – und wurde dadurch in seinem Heimatland zu einer Persona non grata.

Elegante (Ab-)Wege

Damit scheint Kissin aber gut leben zu können – jedenfalls seinem Auftreten im Wiener Musikverein nach zu urteilen. Ausnahmsweise umspielte am Donnerstag bereits vor Dienstbeginn ein sanftes Lächeln die Lippen des 52-Jährigen. Das Konzert startet überraschend entspannt: Beethovens 27. Sonate, ohnehin eine sanfte Ausnahme im Werkkorpus, geht hier zügig, doch unaufgeregt ihrer eleganten Wege. Eine edle Wiedergabe, sorgsam abgestuft in der Artikulation.

Allein: Unterfordern solche Preziosen nicht Kissins Virtuosenmuskel? Diese kommen im Anschluss dafür umso mehr zum Einsatz.

Ganz in seinem Element

Sobald die Bassnoten in Chopins f-Moll-Fantasie sprudeln und strömen, ist der russische Romantik-Zampano ganz in seinem Element. Das allerdings nicht nur wegen seiner technischen Superkräfte, sondern auch dank der Grazie seiner Kunst. So üppig Kissin das notenreiche Geschehen dahinrauschen lässt, so fein strukturiert er es zugleich: hier ein stinnstiftender Lautstärkenverlauf, dort eine gliedernde Tempo-Nuance. Es wirkt, als würde hier jemand zugleich seine Meisterschaft im Rodeo und in den Finessen des Dressurreitens beweisen. Einen Höhepunkt in der zweiten Hälfte setzt Musik von Johannes Brahms – doch keines der viel geliebten Spätwerke des Rauschebarts, sondern stattdessen die vier Balladen op. 10.

Seltsam: Das abschließende, Schumann-nahe Andante scheint hier mehr mit Skrjabin zu liebäugeln, gerät zu einer düster lockenden Nocturne mit hypnotischem Puls. Danach noch ein veritables Zirkusstück: Die irren Clownerien, akro­batischen Stunts von Prokofjews Zweiter Sonate schnurren unter Kissins Zugriff mit selbstverständlicher Rasanz ab. Letztendlich Jubel und drei Zugaben, darunter auch ein sanftes Lieblingsstück diverser Klavierklassen-Abende, nämlich der Brahms-Walzer in As-Dur – und damit nochmals entspannte Töne. (Christoph Irrgeher, 2.2.2024)