Viktor Orbán
Ungarns Premierminister Viktor Orbánbeim EU-Gipfel.
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Wenn es ums große Geld geht, dann ist Viktor Orbán sehr selektiv. Gibt es etwas für ihn bzw. den nationalkonservativen Freundeskreis rund um seine Partei Fidesz oder ganz generell für sein eigenes Land zu holen, nimmt der ungarische Premier gerne alles. Mit allen Mitteln. Notfalls durch politische Erpressung auf EU-Ebene und mit Vetodrohungen.

Am liebsten sind ihm die nicht rückzahlbaren Subventionen aus dem EU-Budget in Brüssel in vielfacher Milliardenhöhe. Dort muss er viel weniger einzahlen, als er rausbekommt. Ungarn ist im Verhältnis zur Landesgröße bei schrumpfender Bevölkerungszahl von knapp zehn Millionen Menschen und aktuell wirtschaftlicher Schwäche ein großer Nettoempfänger der Union.

Ein Profiteur. Aber in den bald dreizehn Jahren seiner Regentschaft in Budapest gab es dabei zuletzt zunehmend Probleme. Weil die Regierung das EU-Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit verletzt, Orbán die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Medien notorisch attackierte, verweigerten die EU-Partner und die Kommission Auszahlungen.

Einlenken da und dort

Das betrifft das reguläre EU-Budget ebenso wie den Wiederaufbaufonds. Milliardenhilfen im zweistelligen Bereich stehen auf dem Spiel, Geld, das das Land mit der 2023 höchsten Inflationsrate in der EU dringend braucht. Kein Wunder, wenn der Rechtspopulist also immer schriller auftritt, um von seiner eigenen Misere abzulenken.

Nur weil er da und dort einlenkte, die geforderten Justizreformen einleitete, gab es Lockerungen, was Subventionen aus EU-Programmen betrifft. Zuletzt geschah das beim regulären EU-Gipfel im Dezember. Orbán hatte dort zunächst den Start von Beitrittsverhandlungen der Ukraine per Veto blockiert. Auf den "Ratschlag" des deutschen Kanzlers Olaf Scholz ging er jedoch kurz auf die Toilette, damit die übrigen 26 Regierungschefs einstimmig den Beitrittsprozess beschließen konnten.

Ungarn lenkt ein: Alle EU-Länder billigen Ukraine-Hilfen
Auf dem EU-Sondergipfel in Brüssel haben sich alle 27 Mitgliedsländer auf Wirtschaftshilfen für die Ukraine im Umfang von 50 Milliarden Euro geeinigt. Der Durchbruch kam nach einem Treffen in kleiner Runde mit Ungarns Regierungschef Viktor Orban, an dem unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) teilnahm.
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Schwächegeständnis

Die EU-Partner sahen das schon damals als erstes Einbekenntnis von Schwäche, als Niederlage. Aber Orbán erreichte zumindest eine weitere Verzögerung, indem er das praktisch fertige Paket einer Ukraine-Hilfe im Volumen von 50 Milliarden Euro blockierte. Dieses sollte im Zuge der Revision des EU-Budgets realisiert werden, auf vier Jahre planbar bis Ende des Jahres 2027.

Man vereinbarte aus Rücksicht auf Ungarn, das ab Juli für sechs Monate den EU-Vorsitz übernehmen wird, eine "Ehrenrunde". Bei einem EU-Sondergipfel, der diese Woche in Brüssel stattfand, sollte Klarheit geschaffen werden.

Schon damals war fixiert: Notfalls würden die EU-26 das große Ukraine-Paket an Ungarn vorbei beschließen, technisch komplizierter, aber machbar, wie bisher.

Gesichtswahrung

Orbán bekam also nur die Gelegenheit zur Gesichtswahrung. Bei sich zu Hause verkauft der Premier so etwas dennoch gerne als großen Erfolg seiner politischen Rempeleien. Das Prinzip Orbán. Viel Lärm, aber auch immer wieder ein Einlenken in letzter Minute, um eine Eskalation zu vermeiden.

Wenn andere Länder und ihre Menschen, die wie die Ukraine von Russland in einen Krieg hineingezogen wurden, dringend EU-Hilfen brauchen, ums Überleben kämpfen, dann gibt sich Orbán knausrig. Der Krieg sei ohnehin nicht zu gewinnen, behauptet er, während alle anderen Regierungschefs betonen, dass die Ukraine um keinen Preis verlieren dürfe.

Show der Rücksichtslosigkeit

Partner sind ihm dabei ziemlich egal, ob in der Union oder bei den Nachbarn in Osteuropa. Es wird auch gerne verschwiegen, dass der größte Teil der Ukraine-Hilfe für zivile Zwecke verwendet wird: Spitäler, Schulen, Gehälter von Beamten, für Pensionen, Infrastruktur wie Wasserversorgung.

Aber selbst in solchen Fällen legt Orbán sich in einer Show der Rücksichtslosigkeit gerne quer: eben nicht für andere Völker oder gar hehre politische Ziele und Ideen, sondern aus rein national-egoistischen Motiven.

Genau das war in den Wochen vor dem Sondergipfel zu beobachten. Orbán drohte, produzierte dicke Schlagzeilen, kündigte an, dass er beim Sondergipfel erneut ein Veto einlegen werde bei einer Entscheidung, die gemäß EU-Verträgen einstimmig fallen muss: "Ich stimme Hilfsgeldern für die Ukraine nur zu, wenn ich im Gegenzug auch Hilfen für Ungarn in zweistelliger Milliardenhöhe bekomme." Konkret: blockierte Mittel aus dem Wiederaufbaufonds.

Schwierige Ausgangslage

Das war die Ausgangslage vor dem Treffen am Donnerstag. Alle Welt erwartete daher eine komplizierte, lange Ratssitzung, Debatten, Streitereien. Und dann geschah etwas bisher Ungesehenes: Orbán gab nach, noch ehe der EU-Gipfel offiziell begonnen hatte.

Als sich die 27 Regierungschefs versammelten, konnte der Ständige Ratspräsident Charles Michel verkünden, dass es Einstimmigkeit gebe, was die Ukraine-Hilfe betreffe. Man vereinbarte, dass die Vergabe der 50 Milliarden Euro in zwei Jahren erneut revidiert werde, es dazu aber keinen neuerlichen Beschluss geben werde, also auch keine Vetomöglichkeit für Orbán.

"Das hätte er schon im Dezember haben können", wunderte sich ein Regierungschef. Das Sondertreffen habe nur wegen ihm stattgefunden.

EU-Flagge auf zerbröckeltem Grund
Das Bild der europäischen Einheit bröckelt. Auch dank Orbáns Show der Rücksichtslosigkeit.
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"Orbán-Müdigkeit"

Donald Tusk, der neue Premier Polens, das Orbán unter der PiS-Regierung lange die Mauer gemacht hatte, witzelte über den Kollegen in Budapest: Man habe eine "Orbán-Müdigkeit, keine Kriegs- oder Ukraine-Müdigkeit". Sogar der slowakische Premier Robert Fico, der sich in Sachen Ukraine-Hilfe und Waffenlieferungen skeptisch zeigte, ließ Orbán hängen, sprach sich gegen seine Blockade aus (siehe Bericht Seite 12). Das Einlenken des Ungarn sei als "Kapitulation" zu sehen, schrieb die FAZ tags darauf. Orbán habe nichts erreicht.

Das trifft den Sachverhalt gut. Aber nach diesem Sondergipfel ist die EU-Welt doch eine andere. Der ungarische Premierminister scheint nun im Rat völlig isoliert zu sein. Er musste bei einem Treffen mit den mächtigsten Regierungschefs, neben Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auch Italiens rechte Ministerpräsidentin Georgia Meloni, erkennen, dass sein Verhalten nicht weiter toleriert wird. Man machte ihm klar, dass die Partner bei weiterer Obstruktion ein Verfahren auf Stimmrechtsentzug einleiten würden und dass es schwere Konsequenzen für Ungarn haben werde, wenn Investoren das Vertrauen ins Land verlören. Orbán, so heißt es in Brüssel, werde nie wieder der Alte sein. Seine Drohungen mit Vetos werde man nicht mehr richtig ernst nehmen.

Umfaller als Erfolg

Dem eigenen Publikum zu Hause verkaufte Orbán seinen Umfaller als riesigen Erfolg. "Wir haben es erkämpft!", schrieb er auf Facebook. Von der EU-Spitze habe er ein "Angebot" erhalten, das alle seine Bedenken "zerstreut" habe.

Zum einen habe er die "Garantie" erhalten, dass keine der für Ungarn vorgesehenen EU-Gelder in das Ukraine-Hilfspaket fließen würden. Zum anderen "haben wir einen Kontrollmechanismus herausverhandelt, der garantiert, dass die Gelder vernünftig verwendet werden".

Am Freitag legte er nach: "Die 50 Milliarden gehen nicht in Waffenkäufe, sondern dienen dazu, dass der bankrotte ukrainische Staat nicht zusammenbricht."

Scheinargumente

Diese Rhetorik zieht die Register populistischer Scheinargumentation. Es war nie vorgesehen, Mittel aus den Fördertöpfen für die Nettoempfänger in der Union zu entnehmen. Und die Berichtspflicht für die Verwendung der Gelder belegt die Niederlage Orbáns: Sie können nur einstimmig gestrichen werden. Orbán hat dazu keine Vetomacht.

Doch als routinierter Populist definierte er die Niederlage einfach in einen Sieg um. Mit derartigem Gerede kommt er in Ungarn weitgehend durch, weil er und seine Propagandisten nach fast 14 Jahren "illiberaler" Herrschaft eine Hegemonie über die Medien und Diskursräume errichtet haben.

In der schnöden Wirklichkeit war aber der ungarische "Streetfighter" – so eine seiner Eigendefinitionen – im EU-Kreis isoliert. "Er versuchte, die anderen EU-Regierungschefs zu erpressen", meinte der ehemalige Außenminister Péter Balázs in der oppositionellen Tageszeitung Népszava, "aber anstatt Verbündete zu finden, blieb er allein." (Thomas Mayer aus Brüssel, Gregor Mayer, 2.2.2024)