Wie kann ein 19-jähriger Untersuchungshäftling, gegen den wegen Terrorverdachts und des Vorwurfs krimineller Vereinigung ermittelt wird, während eines Krankenhaustermins flüchten? Diese Frage beschäftigt nach einem derartigen Fall in Wien die Justizwache – und auch die Politik.

Wie berichtet, gelang es am Freitagvormittag einem jungen U-Häftling, bei einem Termin im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in der Wiener Leopoldstadt, zu flüchten. Er war in der Justizanstalt Josefstadt untergebracht, es handelt sich um einen mutmaßlichen Anhänger der radikalislamistischen Terror-Miliz "Islamischer Staat" (IS). Am Samstagvormittag wurde der 19-Jährige gefasst, er befindet sich nun wieder im Gefängnis.

Die Polizei fahndete mit einem Großaufgebot nach dem 19-Jährigen, am Samstag wurde er geschnappt.
Werner Kerschbaummayr / fotokers

ORF berichtet über vorgetäuschten Anfall

Vermutet worden war bereits am Freitag, dass der Häftling bei dem Krankentransport nicht gefesselt gewesen sei. Das wird seitens des Justizministeriums nun bestätigt, wie die "Krone" zuerst berichtete. Die "Entweichung" sei "nach derzeitiger Sachlage auf menschliches Fehlverhalten eines Justizwachebeamten zurückzuführen, wobei der Beamte die im aktuellen Erlass vorgeschriebene Fesselung des Insassen nicht angewandt hat", heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme an den STANDARD. Eine disziplinarrechtliche Prüfung des Vorfalls sei im Gange.

Der stellvertretende Vorsitzende der Justizwachegewerkschaft, Christian Kircher, machte aus Anlass dieses Falles darauf aufmerksam, dass Häftlinge bei externen Terminen – etwa zwecks Arzt- oder Spitalsbesuchen – aufgrund personeller Engpässe grundsätzlich nur mehr von einem Justizwachebeamten beziehungsweise einer Justizwachebeamtin eskortiert würden. In den Krankenhäusern seien die Beamten "dann auch mit administrativen Aufgaben befasst, müssen Zettel ausfüllen, Fragen beantworten. Zugleich sollen sie den Insassen ja nicht aus den Augen lassen", kritisierte Kircher gegenüber der APA. Anders als bei der Polizei, wo stets mindestens zwei Beamte zu Vorführungen eingeteilt sind, "muss bei uns ein Mann allein reichen. Das lädt geradezu zu Flucht- oder Befreiungsversuchen ein", meinte Kircher.

Indes gab es keine Bestätigung vom Justizministerium für einen Bericht des "Ö1 Morgenjournal", demzufolge der 19-Jährige bei seinem Termin bei im Krankenhaus einen epileptischen Anfall vorgetäuscht haben soll. Laut ORF wurde der U-Häftling für eine terminlich vereinbarte ärztliche Untersuchung zunächst in eine geschlossene Abteilung des Spitals gebracht. In dem speziell gesicherten Bereich soll er dann aber einen Anfall simuliert haben, worauf er in den allgemein zugänglichen Bereich des Krankenhauses kam, um weiter untersucht zu werden – angeblich ungefesselt und nur von einem einzigen Justizwachebeamten begleitet. Diesen soll er dann attackiert und verletzt haben, um die sich ihm bietende Gelegenheit zur Flucht zu nutzen.

Rückkehr zu individueller Prüfung

Um besagten Erlass über medizinische Eskorten hat sich nun eine politische Debatte entsponnen. Er war erst Ende November 2023 verschärft worden, nachdem es bei Transporten zu medizinischen Terminen zu einer Serie von Fluchtversuchen aus Justizanstalten in Wien und Niederösterreich gekommen war. Häftlingen, die in ein Krankenhaus oder zum Arzt gefahren werden, mussten daraufhin generell die Arme hinter dem Rücken gefesselt oder mit einem Bauchgurt gesichert. Davor waren individuell entschieden worden, ob es diese erhöhten Sicherheitsvorkehrungen braucht. Möglich war etwa auch, Handschellen vor dem Körper zu tragen.

Auf diese Regelung wurde laut einem Sprecher des Justizministeriums mittlerweile wieder zurückgeschwenkt, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit. Die Verschärfung war im November als temporär angekündigt und eine Evaluierung nach einem Monat in Aussicht gestellt worden. "Der Erlass wurde im vergangenen Jahr überprüft und testweise angepasst", heißt es dazu aus dem Justizministerium.

Keine Verschärfung geplant

Die Rückkehr zur individuellen Prüfung kritisiert die FPÖ: Die grüne Justizministerin Alma Zadić habe "ohne Grund die im letzten November veranlassten Sicherheitsanordnungen – die Rückenfesselung und den Bauchgurt –, die nach der Pannenserie im vergangenen Jahr erlassen wurden, Anfang Jänner wieder aufgehoben", sagte Nationalratsabgeordneter Christian Lausch am Samstag.

Aus dem Justizministerium heißt es, dass eine Fesselung am Rücken im aktuellen Fall sehr wohl möglich gewesen wäre – sofern vorab eine individuelle Prüfung die Notwendigkeit dazu ergeben hätte. Bei dem entkommenen 19-jährigen habe nicht eine zu lasche Fesselung eine Flucht ermöglicht, sondern dass es gar keine gegeben habe. Auf Nachfrage, ob man den Erlass vom November wieder einsetzen wolle, wird seitens des Justizministeriums betont, dass weiterhin alle Fesselungsmöglichkeiten bestehen würden. Das bedeutet: Einen Grund, Gefangenen bei medizinischen Eskorten wieder generell Handschellen am Rücken anzulegen, sieht man derzeit nicht. (Stefanie Rachbauer, 4.2.2024)