Bernhard Raimann blockt einen Gegenspieler.
Bernhard Raimann spielt lieber gegen kleinere, schnellere Gegenspieler. Auch die seien aber noch stark genug, "dass man sehr schnell am Hintern landet, wenn man sein Gewicht falsch verlagert".
IMAGO/Marc Schueler

Bernhard Raimann lebt jeden Sonntag seinen Traum. Aber wenn man ihn da auf dem Football-Spielfeld beobachtet, dann fragt man sich, warum jemand von dieser Aufgabe träumt: Im Minutentakt muss sich der gebürtige Wiener zwei Meter großen Muskelbergen in den Weg stellen, die mit aller Gewalt den Mann hinter ihm zu Boden reißen wollen. Seine Gegenspieler sind furchterregend, die Bezeichnung "Monster" ist vertretbar. Oder, wie es Raimann im Gespräch mit dem STANDARD ausdrückt: "Das sind Wahnsinnsathleten, das lernt man sehr schnell."

Raimann spielt bei den Indianapolis Colts Offensive Tackle. Als solcher hat er zwei Jobs: Bei Laufspielzügen räumt er dem Ballträger einigermaßen gewaltsam den Weg nach vorn frei, bei Passspielzügen schützt er seinen Quarterback, während der nach Anspielstationen sucht – und dabei möglichst nicht im Boden versenkt werden sollte.

Mit 201 Zentimetern und 145 Kilo ist Raimann selbst nicht gerade schmächtig, doch sein Job ist hart. Nach nur zwei Jahren in der National Football League zählt er bereits zu den besten Offensive Tackles, die der Football kennt. Die Football-Nerd-Website Pro Football Focus bewertet über die ganze Saison jeden einzelnen Spieler bei jedem einzelnen Spielzug und errechnet daraus eine Gesamtnote, eine detailliertere Leistungsbewertung gibt es nicht. Unter den insgesamt 81 Tackles schaffte es Raimann laut PFF in der Saison, die in der Nacht auf Montag mit dem Super Bowl endet, auf Platz sieben. Das ist auch angesichts seines Werdegangs sensationell und erregt nur wegen Raimanns eher unspektakulären Position wenig Aufmerksamkeit.

Positionswechsel

Vor vielen Jahren, als sich Raimann als footballbegeisterter Bursche im Austauschjahr auf einer Highschool in Michigan ein College-Stipendium erspielte, hatte er noch eine entspanntere Hack’n. Damals war er Wide Receiver, musste sich nur freilaufen, Bälle fangen und hin und wieder von einem menschgewordenen Kleinlaster im Vollsprint weggeräumt werden. Doch Raimanns physische Anlagen waren zu verlockend, längst zeichnete sich ab, dass er neben der Größe auch Potenzial für stattliche Breite hatte. Als Personalnot dazukam, musste er zum Vorblocker werden und dafür gewaltig zulegen. Die nötige Ernährung beschrieb Raimann so: "Manchmal übergibt man sich, manchmal nicht."

Bernhard Raimann ohne Helm.
Bernhard Raimann.
AP/Michael Probst

2022 wählten die Colts den Spätberufenen im NFL-Draft, in dem junge College-Spieler auf die 32 NFL-Teams verteilt werden. In seiner Debütsaison verletzte sich der in Steinbrunn groß gewordene Wiener nach zwei Kurzeinsätzen als Ersatzmann. "Nach zwei Wochen kommt man zurück und wird in Denver ins Feuer geworfen", erzählt er.

Denver, das war Raimanns erstes Auswärtsspiel als Starter, und gerade für Spieler seiner Position macht das einen gewaltigen Unterschied. Hat die Gästemannschaft den Ball, machen Heimfans bewusst Lärm, um Kommunikation zu verunmöglichen. Statt mit abgemachten Codewörtern den punktgenauen Start eines Spielzugs auszurufen und damit einen Schritt Vorsprung auf die Verteidigung zu haben, muss auswärts still kommuniziert werden. "Dinge, die man davor auf der Uni noch nicht so trainiert hat. Dann macht man eben seine Fehler", sagt Raimann. Er verursachte vier Strafen, das fällt unter die Kategorie Horrorpartie.

Angekommen

"Die Zeit nach dem Spiel war am schwierigsten. Logischerweise sind Fans und Medien gleich dahinter: 'Der kann nicht für uns spielen', 'Schrecklicher Start in die Karriere'", erzählt der 26-Jährige. "Auf dem College hatte man solche Spiele nicht. Wenn man in der NFL nicht hundertprozentig physisch und mental auf dem Spielfeld ist, geht das ganz schnell in die Hose." Das liegt an eingangs erwähnten Monstern. Die sind im modernen Football so wichtig, dass sie zu den bestbezahlten Spielern gehören – dadurch zieht die Position genetisch besonders gesegnete Exemplare an. "Wahnsinnsathleten" eben.

Mittlerweile lässt Raimann auch solche Gegenüber meistens aussehen wie Durchschnittstypen. Schon in der zweiten Saisonhälfte 2022 zählte er zu den besseren Tackles der Liga, im Frühling und Sommer legte er knapp sieben Kilo zu und holte sich so fehlende Kraft und Stabilität. "Mit der Erfahrung kommt etwas Ruhe rein, man kann sich mehr auf sich selbst fokussieren, statt sich nur Gedanken zu machen, was der Gegner jetzt machen könnte", sagt Raimann. Abgesehen von zwei wegen einer Gehirnerschütterung verpassten Spiele war seine vergangene Saison ein persönlicher Triumphzug. Als Highlights nennt Raimann die Overtime-Auswärtssiege gegen die Baltimore Ravens und die Tennessee Titans sowie die vorletzte Heimpartie gegen die Pittsburgh Steelers: "Das war echt, echt geil. Es ist um etwas gegangen, die Fans waren aktiver als bei den anderen Spielen."

What Colts Bernhard Raimann Has Shown us in 2023
Indianapolis Colts Left Tackle Bernhard Raimann has become one of the best young Left tackles LTs in the NFL. lets break down his tape. 00:00 Run Blocking 07:14 Pass Blocking Follow me on Social Media: Twitter: https://twitter.com/NFLTrenchBattle #NFL #Col
The Football Scout

Das Rennen um ein Playoff-Ticket verloren die Colts am letzten Spieltag des Grunddurchgangs mit einer äußerst knappen Niederlage gegen die Houston Texans. Da sich der designierte Heilsbringer Anthony Richardson nach nur vier Spielen verletzte und Ersatzquarterback Gardner Minshew den Großteil der Saison bestreiten musste, geht die Saisonbilanz von neun Siegen und acht Niederlagen trotzdem als Erfolg durch.

Fleiß und Schweiß

Offensive-Line-Coach Tony Sparano Jr. schwärmt, dass Raimann eine immense Auffassungsgabe mit unermüdlichem Arbeitsethos kombiniere: "Er ist ein Naturtalent – aber viele Naturtalente werden nie so gut, wie sie sein könnten. Seine Leistungen sind kein Zufall." Dass Raimann erst seit 2020 Offensive Tackle spielt, wird zunehmend zum Joker. Wenn er nun schon besser ist als fast alle, die ein bis zwei Jahrzehnte Übung auf der Position haben – wo kann das noch hinführen?

Dass Raimann im üblichen "Exit Interview" zum Saisonabschluss wesentlich mehr Selbstkritik als Eigenlob übte, kommt in Übersee sowieso bestens an. Als linker Tackle beschützt er den toten Winkel des rechtshändigen Quarterbacks, ist also besonders wichtig – und bald besonders teuer. Sein Vier-Jahres-Rookievertrag bringt Raimann bis 2025 insgesamt knapp über fünf Millionen Dollar ein, seine bestbezahlten Positionskollegen kassieren über 20 Millionen Dollar – allerdings pro Jahr. Soll Zukunftsaktie Richardson unversehrt bleiben, ist ein saftiges Investment in seinen wichtigsten Leibwächter alternativlos. Raimann dürfte bei seiner Vertragsverlängerung also zu einem der bestbezahlten Sportler Österreichs aufsteigen. Denn die Monster werden nicht weniger. (Martin Schauhuber, 4.2.2024)