Der Schlüssel zu Ostapenkos Spiel ist Aggression.
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Hollywood liegt in Riga, Lettland. Zumindest, wenn man von Lettlands bester Tennisspielerin aller Zeiten ausgeht. Für eine halbe Woche lag Hollywood in Linz, Oberösterreich. Jelena Ostapenko reiste erst am Mittwoch zum erstmals aufgewerteten WTA-500 Turnier in die oberösterreichische Landeshauptstadt an, am Sonntagnachmittag spielte die Nummer zwölf der Tennisweltrangliste um kurz nach 15 Uhr ihren letzten Punkt am grauen Center Court. Sie gewann ihn und damit auch das Turnier. Ihr Triumph war ein Favoritinnensieg, Ostapenko führte die Setzliste an. Das Finale gegen die Russin Ekaterina Alexandrowa war ein Kurzfilm, Ostapenko fegte in nur 71 Minuten über ihre Kontrahentin hinweg. Und dabei war die 26-Jährige nur das Ersatzprogramm, ursprünglich hätte Wimbledon-Siegerin Marketa Vondrousova das Feld anführen sollen. Die Tschechin sagte ab, Ostapenko sprang ein und kam direkt von den Australian Open nach Österreich.

Für Organisatorin Sandra Reichel war Ostapenko nicht nur ob ihres guten Rankings ein Jackpot: Die Lettin schillert, die Lettin polarisiert, die Lettin holte 2017 20-jährig ungesetzt und völlig überraschend den Titel bei den French Open. Und seither eckt die Frau aus Riga auch immer wieder an, legt sich mit Gegnerinnen, Schiedsrichtern und Schiedsrichterinnen an. Sie ist vieles, nur bei Gott nicht fad. Zudem spielt Ostapenko ein Tennis, das seinesgleichen sucht.

Rückspiegel und Schnecken

Zuallererst gilt: Man muss das Werk von der Künstlerin trennen. Denn wäre Ostapenko so, wie sie Tennis spielt, wäre sie, gelinde gesagt, unerträglich. Sie würde Seitenspiegel von parkenden Autos treten. Oder im Garten auf Schnecken trampeln. Jelena, oder wie sie sich selbst nennt Alona, spielt das aggressivste Tennis auf der WTA-Tour: Jeder Schlag, jede Vorhand, jede Rückhand ist eine Kampfansage, kein Zurückziehen, immer voll in den Ball, immer voll ins Gerät, bam bam bam. Ein Tennisspiel wie ein Jean-Claude-Van-Damme-Streifen.

Der Tennis-Statistik-Bog Tennisabstract hat sich mit Ostapenkos Spiel befasst und belegt die Hyperaggression der 177-Zentimeter-großen Lettin. Und irgendwo ist Aggression vor allem die Sehnsucht nach Kontrolle. Bei einem Medientermin in Linz sagte die Lettin: "Ich mag es, Kontrolle über das Spiel und die Gegnerin zu haben, und nicht darauf angewiesen zu sein, was sie macht." Gesagt, getan: Sobald der Ball im Spiel ist, beendet Ostapenko in nahezu zwei Drittel der Fälle selbst den Ballwechsel. Die extrem aktive Art zu spielen ist natürlich anfällig für Fehler. Get rich or die tryin'. Das Verhältnis zwischen Winnern und Fehlern hält sich die Waage (37 Prozent Winner, 26 Prozent Fehler), auf jeden unerzwungenen Fehler kommen 1,25 gewinnbringende Schläge. Superstar Aryna Sabalenka schlägt ähnliche viele Winner mit weniger Fehlern (23 Prozent), hat aber den Vorteil eines bedeutend besseren Aufschlags.

Power to the Alona.
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Apropos Aufschlag: Das Service ist nicht Ostapenkos bester Schlag, und dennoch ist es in seiner Ausführung bemerkenswert und einzigartig. Denn wenn die Lettin den Ball wirft, verzieht sie das Gesicht, den Mund weit geöffnet, die Augen überdreht. Überhaupt scheint die 26-Jährige nicht immer Kontrolle über ihre Mimik zu haben: Auch nach Punktgewinnen oder Fehlern schiebt sich Ostapenkos Gesicht manchmal in alle Richtungen, gibt einen kurzen, aber vielleicht ungeschönt ehrlichen Einblick in ihre Seele.

Aus dem Nichts

2017 ist Ostapenko aus dem Nichts gekommen – und sie ist gekommen, um zu bleiben. Quasi niemand hatte die damals 20-Jährige für den French-Open-Sieg auf dem Zettel. Sie setzte sich im Finale gegen die Rumänin Simona Halep in drei Sätzen durch und sorgte vor allem mit ihrer Vorhand für Schlagzeilen: Durchschnittlich fetzte die junge Lettin die Bälle mit ihrem Semi-Western-Grip schneller übers Netz als die Nummer eins der Setzliste bei den Männern, Andy Murray. Nach dem überraschenden Triumph wolle sie "in Paris erstmals shoppen gehen", sagte Ostapenko damals.

Ostapenkos überdurchschnittliche Power kommt nicht etwa von einem Hass auf die Tennisbälle, ihr Gegenüber oder das Universum. Sie hat ihren Ursprung in der lettischen Infrastruktur. Ostapenko trainierte auf unebenen Holzböden in eiskalten Hallen, der Ball zischt nach dem Aufsprung willkürlich weg: "Vielleicht spiele ich deshalb so ein aggressives Tennis", sagte sie einmal der "New York Times". Sport wurde der kleinen Alona quasi in die Wiege gelegt. Papa Jewgenijs, der 2020 verstarb, war Ukrainer und Torhüter beim FC Metalurh Zaporizhya, Mutter Jelena Jakowlewa war selbst Tennisprofi: "Alona hat diese Kraft von Geburt an, es sind die ukrainische Gene. Ihr Großvater war groß und stark, und ihr Vater ist es auch." Zwischendurch stand bei Ostapenko gar eine Karriere als Turniertänzerin zur Debatte. Es wurde Tennis.

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Tennis Garch

Auf der Tour etablierte sich Ostapenko als Wundertüte. Wer sie als potenzielle Gegnerin zugelost bekommt, schnauft einmal durch. Das liegt nicht nur an ihrem Tennis: Immer wieder eckt die Lettin an, verwickelt sich in Kontroversen, zweifelt das Hawkeye an, mault auch gerne Richtung Schiri-Stuhl. Ein Beispiel gefällig? Als Ostapenko 2021 in Wimbledon im dritten Satz gegen die Australierin Ajla Tomljanović ein überraschendes Medical Timeout nahm, eskalierte die Situation. Tomljanović wurde es zu bunt, sie wandte sich an den Schiedsrichter: ""Du weißt, dass sie lügt, oder? Wir wissen es alle." Ostapenko verlor und schoss nach dem Match nach: "Sie darf gar nichts sagen, solange sie nichts von Physios oder den Ärzten weiß. Es war extrem respektlos."

Abgeholt.
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Auch in Linz zeigte sich Ostapenko von all ihren Seiten, stellte all ihre Facetten unter Beweis: Mit einer gehörigen Portion Müdigkeit im Gepäck mühte sie sich bei ihrem ersten Match gegen die Dänin Clara Tauson gewaltig, spielte einen schlechten ersten Satz – und ließ zwischendurch alle in der Halle ihren Unmut spüren. Und doch steigerte sich die Favoritin aus Riga mit Fortdauer der Woche immer weiter, knallte nicht zuletzt der Russin Alexandrowa im Finale die Bälle um die Ohren. Der Satz gegen Tauson war der einzige, den Ostapenko während des Turniers abgeben musste. Als Lohn gab es den neuen Pokal, ein Fotoshooting im Musiktheater Linz und ein Preisgeld in Höhe von 123.480 Euro. Ostapenko war freilich zufrieden: "Ich habe hier vor fünf Jahren im Finale gespielt und den Siegerinnenpokal nicht bekommen, aber diese Trophäe heuer ist ohnehin viel schöner." Und: "Ich bin nächstes Jahr wieder hier." (Andreas Hagenauer, 5.2.2024)