Tube Girl Influencerin Sabrina Bahsoon
Die modelnde Jusstudentin Sabrina Bahsoon wurde als "Tube Girl" bekannt. Sie veröffentlichte Tiktok-Tanzvideo aus der Londoner U-Bahn, heute wird sie von Couture-Häusern zu Modenschauen eingeladen.
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Der Anfang sieht nach ewigem Urlaub aus. Im Sommer 2009 lädt Chiara Ferragni Fotos auf der Fotoplattform Flickr hoch. Sie zeigen die Italienerin im Bikini, in abgesäbelten Jeansshorts, auf einem Boot. Die Bilder sehen aus wie ein durchschnittliches privates Fotoalbum einer Frau Anfang zwanzig. Unter den Bildern begeisterte Kommentare: "Du siehst aus jeder Perspektive gut aus!" Zwei Monate später startet Ferragni mit ihrem Freund das Blog The Blonde Salad. Investitionskosten: zehn Euro. 2009 ist Instagram noch kein Thema, ein Jahr später wird die Plattform gestartet.

15 Jahre später ist die Modeblog-Pionierin mit dem goldenen Händchen millionenschwer und steht als Betrügerin da. Was ist passiert? Im Dezember 2023 verhängt die italienische Wettbewerbsbehörde ein Bußgeld von mehr als einer Million Euro gegen zwei Unternehmen Ferragnis. Es geht um eine Kooperation aus dem Jahr 2022. Die Italienerin hatte vor den Weihnachtsfeiertagen mit dem Turiner Unternehmen Balocco 360.000 Törtchen namens "Pink Christmas", verpackt in rosa Papierschachteln, für je neun Euro verkauft. Doch statt den Gewinn von über einer Million Euro wie versprochen an ein Turiner Krankenhaus zu spenden, wurden die Erlöse eingeheimst. Ein Skandal mit Konsequenzen. Enttäuschte Follower entfolgen Ferragni, Marken wie Coca-Cola oder der Brillenhersteller Safilo treten vorläufig auf die Bremse.

Der Skandal erzählt von Gier und Intransparenz. Aber nicht nur. "Die Reaktionen auf den Fall Chiara Ferragni führen vor, dass die ­Erwartungen, dass da jemand authentisch ist und sein Geld wie versprochen spendet, noch da sind", sagt der deutsche Medienwissenschafter Nils Borchers. Das mag mit den Anfängen der Modeblogs zu tun haben. Ende der Nullerjahre eroberten vor allem junge Frauen mit einer Mischung aus Tagebucheinträgen und Outfit-Posts das Internet. Ihre Macherinnen verstanden sich als authentische Alternative zu den etablierten Medien und den Anna Wintours dieser Welt.

"Die Geschichte der Influencerinnen und Influencer ist eine typische Web-Geschichte, die rückblickend romantisiert wird", meint Borchers. Das Internet habe versprochen, dass die neue Technologie die Welt zum Besseren verändere und Einzelne ermächtige. "Die grassrootsmäßigen Anfänge der Influencerinnen und Influencer haben die Hoffnung geweckt, dass Leute wie du und ich die Welt der Massenmedien umgehen können." Die Professionalisierung folgte auf dem Fuß. Die Modemarken erkannten schnell das Potenzial der jungen Gesichter. Die Pionierin Ferragni verstand in den Zehnerjahren als eine der Ersten ihr Blog als Business. Sie wurde zu Fashion-Shows eingeladen, landete auf dem Titel der Vogue, wurde zur vielfachen Millio­närin, ihre Ehe mit dem italienischen Rapper ­Fidez zur Realityshow.

Ringen um Glaubwürdigkeit

Der Spendenskandal führt nicht nur vor, dass Influencerinnen Teil des Establishments sind. Der Vorfall markiert auch einen Generationenwechsel. Nun sind jene dran, die mit Chiara Ferragni am Smartphone aufgewachsen sind. Im Influencer-Marketing ist die Suche nach neuen, glaubwürdigen Typen längst im Gang. Verbraucherinnen und Verbraucher zeigen nämlich Ermüdungserscheinungen. Laut einer Umfrage der Onlineplattform Business of fashion und von McKinsey sind 65 Prozent der Befragten genervt von der Dauerwerbesendung auf Instagram. Eine weitere Erkenntnis: Verbraucher langweilt das Luxusleben der Rich Kids of Instagram. Nun sind "sympa­thische und authentische" Charaktere, die ­Humor beweisen oder sich verletzlich zeigen, gefragt. Kurz gesagt: Leute, die nicht nur in ­Infinitypools unter blauem Himmel abhängen, sondern einen eigenen Blick auf die Welt haben.

Tiktok-Star Alix Earle
Tiktok-Star Alix Earle gilt als besonders nahbar. Für den Boom, den Marken erleben, wenn die US-Amerikanerin Produkte bewirbt, gibt es sogar einen eigenen Begriff: den "Alix Earle Effect".
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Diese Entwicklung hat die Videoplattform Tiktok angestoßen. So manche Influencer-Pioniere stellt das vor Probleme. Wer auf Instagram in Balenciaga-Looks Likes sammelt, findet nicht unbedingt auf Tiktok Gehör. Das Bewegtbild erzwinge eine Narration, im Vergleich zu den durchkomponierten Bildern auf Instagram seien die Anforderungen deutlich komplexer, sagt Medienwissenschafter Borchers. "Auf Tiktok lautet die Herausforderung nun: Wer schafft es fortwährend, in diesen komprimierten Videos Geschichten zu erzählen?" Die Anstrengung kann sich lohnen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2023 verbringen Erwachsene in den USA täglich etwa eine Stunde auf Tiktok, fast doppelt so viel Zeit wie auf Instagram.

Doch was haben die Neuen, die die Modeindustrie in Atem halten, zu erzählen? Da wäre zum Beispiel "Tube Girl" Sabrina Bahsoon. Die modelnde Jusstudentin veröffentlichte im vergangenen Sommer ihr erstes Tiktok-Tanzvideo aus der Londoner U-Bahn. Das mit dem Ultraweitwinkelobjektiv gedrehte Video lebt vom Selbstbewusstsein, dem flatternden Haar und dem langgezogenen Arm seiner Protagonistin.

Es wurde zur Vorlage für begeisterte Nachahmerinnen, die den Hashtag #TubeGirl verbreiteten. Heute besucht Bahsoon Modeschauen von Valentino, von der deutschen Marke Boss wurde die Influencerin als Model engagiert. Merke: Influencerinnen müssen sich nicht mehr mit Handtaschen beschäftigen, um von Marken engagiert zu werden. Und Social­-Media-Karrieren können dank des wendigen Tiktok-Algorithmus Raketenstarts hinlegen.

Pommes-Talk

Cool ist, wer anders ist. So wie die Londonerin Amelia Dimoldenberg. Sie unterhält sich auf Youtube und Instagram im Rahmen ihrer "Chicken Shop Dates" bei Pommes und Orangenlimonade mit Schauspielern wie Paul Mescal – ihr folgen Millionen Menschen. Die schnellen, frechen Dialoge finden auch Luxusmodemarken interessant. Von Gucci wurde die 30-Jährige für Red-Carpet-Interviews engagiert, demnächst soll sie bei den Oscars den Red Carpet warmplaudern.

Amelia Dimoldenberg
Gucci engagierte Comedian Amelia Dimoldenberg unlängst für Red-Carpet-Interviews. Demnächst wird sie Hollywoodstars bei den Oscars das Mikrofon unter die Nasen halten.
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Die US-Amerikanerin Alix ­Earle wiederum, 6,4 Millionen Tiktok-Fans, wirkt auf den ersten Blick wie eine klassische Influencerin in der Tradition Ferragnis. Doch Earle, die ihre einst Akne-gezeichnete Wange in die Kamera hielt, gilt als nahbar. Will heißen, sie kann den Fans alles andrehen. Alix Earle sei die Serena van der Woodsen von heute, schrieb zuletzt das Magazin Harper’s Bazaar. So wie in den Nullerjahren die Looks des Gossip Girl-Stars, dargestellt von Blake Lively, bewundert wurden, klebt die Generation Z an den Get ­Ready With Me-Videos von Earle und ist dabei, wenn sie sich für den Superbowl-Event schminkt. Für den Boom, den Marken erleben, wenn die US-Amerikanerin Produkte bewirbt, gibt es sogar einen eigenen Begriff: den "Alix Earle Effect".

Dann wäre da noch der schweigsame Tiktok-Comedian Khaby Lame, der große Star auf der Plattform. Der im Senegal geborene Ita­liener kommentiert mit seinen ausgefeilten ­Videos kuriose Lifehacks. Längst steht er bei Modemarken wie Boss auf der Payroll, 450.000 Euro soll er 2022 für die erste gemeinsame Kooperation bekommen haben.

Khaby Lame
Der Italiener Khaby Lame verlor 2020 seinen Job als Fabrikarbeiter. Heute unterhält er mit seinen Tiktok-Videos 161 Millionen Fans.
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161 Millionen verfolgen das Tun des Mannes, der während der Pandemie seinen Job als Fabrikarbeiter verlor. Und Pionierin Chiara Ferragni? Dreht weiterhin Tiktok-Videos im begehbaren Kleiderschrank. 6,2 Millionen Fans interessiert das – noch. (Anne Feldkamp, 8.2.2024)