Ungarns Staatspräsidentin Katalin Novák hat – allerdings ohne es öffentlich zu machen – einen Kinderheim-Erzieher begnadigt, der wegen Mithilfe beim Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch seinen Vorgesetzten rechtskräftig verurteilt worden war. Endre K. – ehemals stellvertretender Leiter des Kinderheims in Bicske, 35 Kilometer westlich von Budapest – machte sich zwar selbst nicht pädophiler Straftaten schuldig; doch er zwang Kinder, die der Heimleiter János V. missbraucht hatte, dazu, ihre Zeugenaussagen als Missbrauchsopfer zu widerrufen, um seinen Chef im Meineid zu entlasten. Außerdem wusste er jahrelang von den pädophilen Verbrechen V.s an den Heimkindern. V. wurde zu acht Jahren, K. zu drei Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt.

Staatspräsidentin Katalin Novák gilt als unbedingt loyale Politikerin hinter Ministerpräsident Viktor Orbán.
EPA/FEHIM DEMIR

Ungarns Öffentlichkeit – oder zumindest jener Teil, der sich nicht der tendenziösen Berichterstattung durch die Regierungsmedien hingegeben haben – ist schockiert. Die liberale Oppositionspartei Momentum verlangt den Rücktritt der Staatspräsidentin. Novák hatte das Parlament im Mai 2022 auf Geheiß des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ins höchste Staatsamt gewählt. Bereits damals hatte sie im Rufe einer unbedingten Orbán-Loyalistin gestanden. Noch kurz vor ihrer Wahl, als Vizepräsidentin der Regierungspartei Fidesz, trug sie Ohrringe mit den eingravierten Buchstaben V und O: die Initialen ihres Chefs.

Späte Bekanntmachung

Die umstrittene Begnadigung war bereits im Mai des Vorjahres erfolgt, wurde aber erst Ende vergangener Woche bekannt. Das Präsidialamt hatte schlicht nicht darüber informiert – im Gegensatz zur gleichzeitigen Amnestie für den wegen rechtsextremer Terroranschläge verurteilten György Budaházy. Der ritt damals medienwirksam laut rufend auf einem Pferd vom Gefängnistor in Vác bei Budapest davon. Novák hatte die Begnadigungen – darunter die damals nicht bekanntgewordene von Endre K. – damit begründet, dass Papst Franziskus zu dieser Zeit Ungarn einen Besuch abstattete.

Seit Bekanntwerden der Amnestierung von K. rätselt das Land über die Motive Nováks. Sie selbst äußerte sich nicht konkret dazu. Ihr Büro teilte lediglich mit, dass an sich kein Pädophiler begnadigt wurde. Die Regierungsmedien rechtfertigen die beispiellose präsidiale Geste kleinlaut damit, dass sich der Begnadigte in der Haft vorbildlich verhalten und als Sportlehrer viel Gutes für die Kinder getan habe. Tatsächlich könnten die Beweggründe viel prosaischer gewesen sein: Sie dürften in der außerordentlich guten Vernetzung des verurteilten Pädophilen-Helfers mit der katholischen Kirche und dem Orbán-Clan zu finden sein. Felcsút, der Kindheitsort des Regierungschefs, liegt gerade mal acht Kilometer von Bicske, dem Ort des Kinderheims, entfernt.

"Zusammen mit János (V.) wandte K. große Energien darauf auf, um sich in die 'christlich-konservative' Machtelite der Region einzuschleimen, in der Rolle des guten Menschen vom Dienst", zitierte das Nachrichtenportal "444.hu" einen Kenner der Verhältnisse im Raum Bicske-Felcsút. Wie sich herausstellte, engagierte sich K. dafür, dass der Ringsportverein, dem Orbáns jüngerer Bruder Gyözö vorstand, mit den Heimkindern trainierte. Mit Heimkindern besuchte er auch die Puskás-Akademie in Felcsút, eine Fußballschule, die der Regierungschef persönlich gründete.

"Schlag ins Gesicht der Opfer"

Besonders schockierend dürfte sich die Amnestie des Mittäters auf die einstigen Opfer auswirken. Diese hatten jahrelang dafür kämpfen müssen, damit ihnen Gehör geschenkt wurde und es am Ende zur strafrechtlichen Aufarbeitung der Missbrauchsverbrechen kam. "Die Begnadigung durch Novák ist nichts anderes als ein Schlag ins Gesicht der Opfer", sagte die Momentum-Abgeordnete Anna Orosz am Sonntag bei einem Protest ihrer Partei vor dem Sándor-Palais, dem Amtssitz der Präsidentin. Ihr Rücktritt sei "das Minimum", das von ihr zu erwarten wäre.

In ihrer Zeit als Familienministerin hatte sich Novák als Fürsprecherin eines reaktionären, auf "traditionellen Werten" basierten Frauen- und Familienbildes hervorgetan. Die Orbán-Regierung begründete wiederum sein 2021 geschaffenes Gesetz zur Zensur von Kinder- und Jugendbüchern, die Homosexualität oder Transsexualität thematisieren, damit, dass diese Pädophilie fördern würden. Die Begnadigung eines Pädophilen-Helfers, vermutlich bloß weil er zur "Familie" gehörte, wirkt vor diesem Hintergrund für viele Ungarinnen und Ungarn einfach nur zynisch. (Gregor Mayer, 5.2.2024)