Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – oder kurz Weltklimarat – geht derzeit davon aus, dass die globale Durchschnittstemperatur seit Beginn des Industriezeitalters um etwa 1,2 Grad Celsius gestiegen ist. Doch wann genau die menschengemachte Erwärmung tatsächlich ihren Anfang genommen hat, ist im Detail umstritten. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Ozeane, die mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche bedecken und daher bei der Regulierung des Klimas entscheidend sind.

Die frühesten einigermaßen verlässlichen Aufzeichnungen der Oberflächentemperatur der Ozeane basieren auf Schiffsmessungen und begannen erst in den 1850er-Jahren – und damit nach den großen Vulkanausbrüchen der frühen 1800er-Jahre, die eine globale Abkühlung verursacht hatten. Darüber hinaus weisen diese Messungen häufig Unstimmigkeiten gegenüber den Landlufttemperaturdaten auf. Die Ungereimtheiten geben bis heute Anlass dazu, die Genauigkeit von Klimatrends und aktuelle Bewertungen der globalen Erwärmung zu hinterfragen.

Ozean, Sonnenuntergang
Die Ozeane haben sich möglicherweise bereits viel früher zu erwärmen begonnen als bisher gedacht.
Foto: AP/Robert F. Bukaty

Erwärmung von 1,7 Grad Celsius

Doch es gibt Möglichkeiten, die historischen Temperaturdaten der vorindustriellen Ära zu ergänzen. Bedient man sich etwa biologischer Quellen, ergeben sich neue, durchaus bedenkliche Ergebnisse: Eine aktuelle Studie kommt nun zu dem Schluss, dass die Erwärmung der Weltmeere in Wahrheit bereits viel früher als vermutet begonnen haben könnte, was bedeutende Konsequenzen für die bisherigen Einschätzung der aktuellen Situation hätte. Die Untersuchung basiert auf Analysen von Skeletten von Schwämmen im Karibischen Meer.

Die im Fachjournal "Nature Climate Change" veröffentlichten Resultate deuten darauf hin, dass die Erderwärmung schon in den 1860er-Jahren begann – also rund ein halbes Jahrhundert eher, als der Weltklimarat in seinen Modellierungen annahm. Die derzeitige durchschnittliche Temperatur an der Erdoberfläche läge damit bereits 1,7 Grad höher als in der vorindustriellen Zeit.

Grundlage der aktuellen Studie ist eine Spezies von kalkbildenden Meeresschwämmen aus der Familie Astroscleridae, die bekannt ist für ihre außerordentliche Langlebigkeit: Die untersuchte Art Ceratoporella nicholsoni kann mehrere Jahrhunderte überdauern und kommt typischerweise in tiefen lichtarmen Meeresregionen vor, in denen insbesondere die Temperaturen über lange Zeiträume verhältnismäßige stabil bleiben.

Schwämme als Temperaturarchiv

Ein Team um Malcolm McCulloch von der University of Western Australia, Crawley, hat sich diese Meeresorganismen vorgenommen und eine Möglichkeit genutzt, Eigenschaften ihres Lebensraumes aus ihren Kalkskeletten zu erschließen: Diese Lebewesen bauen im Laufe der Zeit Strontium (Sr) und Kalzium (Ca) in ihren Skeletten ein. Das Verhältnis der beiden Elemente konserviert dabei ziemlich exakt die Temperaturentwicklung über lange Zeiträume hinweg.

Die Proben aus den Kalkschwammskeletten wurden von McCulloch und seinen Kolleginnen und Kollegen in der östlichen Karibik vor den Küsten Puerto Ricos und der Insel St. Croix in einer Tiefe von 30 bis 90 Metern gesammelt. Diese Meereszone bietet vergleichsweise stabile Temperaturverhältnisse, außerdem ist die Karibik eine wichtige Region für den Wärmeaustausch zwischen der Atmosphäre und dem Ozean. Die Temperaturschwankungen in dieser Gegend werden in erster Linie durch den atmosphärischen CO2-Treibhauseffekt verursacht. Andere interne ozeanische Schwankungen, beispielsweise durch Meeresströmungen, sind dagegen minimal.

Schwamm
Kalkbildende Schwämme wie Ceratoporella nicholsoni können mehrere Hundert Jahre leben und legen dabei ein Temperaturarchiv ihrer Umgebung an.
Foto: Winter

Daten aus dem 18. Jahrhundert

Diese speziellen Bedingungen ermöglichten es den Forschenden, die Ozeantemperaturen bis zurück in die 1700er-Jahre detailliert zu dokumentieren, was wiederum eine genauere Rekonstruktion der Erwärmung der Ozeane seit der vorindustriellen Ära ermöglicht. Konkret gelang es dem Team dadurch, Temperaturschwankungen von bis zu 0,1 Grad Celsius zu erkennen – und damit zu einer besseren Auflösung als bei anderen Methoden, wie beispielsweise der Rekonstruktion der Meerestemperatur durch Korallen, zu kommen.

Die gewonnenen Daten erstrecken sich auch in einen Zeitraum vor den großen vulkanischen Abkühlungsereignissen, die bisher zuverlässige Schätzungen des Klimawandels in der Vergangenheit beeinträchtigt haben. Die Werte, die McCulloch und sein Team nun erhoben haben, könnten besser als Grundlage für die Definition des vorindustriellen Basiszeitraums als die Jahre von 1700 bis 1860 dienen.

Erwärmung begann schon 40 Jahre früher

Diese Kalibrierung der vorindustriellen Ära führt nach Ansicht der Forschenden zu einer entscheidenden Schlussfolgerung: Der Beginn der Erwärmung der Ozeane im Industriezeitalter begann demnach in den frühen 1860er-Jahren, also etwa 40 Jahre früher, als vom IPCC angenommen. Außerdem geht daraus hervor, dass sich die Ozeane seit damals bis 2020 um etwa 1,5 Grad Celsius erwärmt haben, was mit den globalen Land-Luft-Temperaturtrends bis zum Ende des 20. Jahrhunderts übereinstimmt.

Ab dem Beginn des 21. Jahrhunderts ist jedoch ein bemerkenswertes Auseinanderdriften dieser Werte festzustellen, bei dem die Landtemperaturen fast doppelt so schnell ansteigen wie die Temperaturen an der Meeresoberfläche. Die Kombination dieser Aufzeichnungen führt zu einer neuen beunruhigenden Einschätzung der globalen Erwärmung: Schon im Jahr 2020 lagen die globalen Oberflächentemperaturen um 1,7 Grad Celsius (± 0,1 Grad Celsius) über den vorindustriellen Werten. Dieser Wert übersteigt die IPCC-Schätzung von 1,2 Grad Celsius um 0,5 Grad.

Beschleunigte Entwicklung

"Die konsistenten Trends in den Strontium/Kalzium-Zeitreihen untermauern die Schlussfolgerung, dass die Oberflächenwassertemperatur in der Untersuchungsregion schon deutlich früher angestiegen ist, als es instrumentelle Messreihen vermuten lassen", bestätigt Bernd Schöne von der Johannes -Gutenberg-Universität Mainz, der nicht an der aktuellen Studie beteiligt war. Allerdings sei ungewiss, ob die Strontium/Kalzium-Werte des Wassers tatsächlich konstant und unverändert geblieben sind, so der Geowissenschafter.

Video: Press briefing zu den vorgestellten neuen Temperaturdaten.
NPG Press

Ob aufgrund dieser Ergebnisse die 1,5-Grad-Celsius-Grenze wirklich überschritten wurde, sei eigentlich nicht relevant, meinte dazu Mojib Latif vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, der ebenfalls nicht Teil der Untersuchung war. "Ich finde die ganze Diskussion etwas akademisch. Meiner Meinung nach ist es auf der Erde bereits viel zu warm, egal ob wir nun 'offiziell' noch unter oder doch schon über 1,5 Grad Celsius stehen", so der Wissenschafter. "Die Auswirkungen der bereits realisierten globalen Erwärmung sind schon katastrophal. Meiner Meinung nach sollten wir nicht über Zehntelgrade diskutieren und von der Dringlichkeit des Handels ablenken."

Für das Forschungsteam um McCulloch weise eine Neubewertung der globalen Erwärmung letztlich vor allem einmal mehr darauf hin, dass sich das Klimasystem der Erde auf einem beschleunigten Entwicklungsweg befindet. Die Schwelle von zwei Grad Celsius globaler durchschnittlicher Erwärmung könnte demnach durchaus bereits in den späten 2020er-Jahren überschritten werden – und damit zwei Jahrzehnte früher, als bei den derzeitigen CO2-Emissionsraten erwartet wurde. (Thomas Bergmayr, 5.2.2024)