Warnschild auf dem Gehsteig mit einer Baustelle vor dem Straflandesgericht Wien
Das sehr hübsche und selten zu lesende Wort Gehsteigabtreppung kann man derzeit beim Eingang des Landesgerichts für Strafsachen Wien sehen.
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Wien – Richterin Claudia Zöllner gewährt im Prozess gegen Frau L. ungewohnte Einblicke in ihr Privatleben. "Wenn ich bei mir eine Kamera installieren würde, könnte ich ziemlich lange warten, bis mir ein Nachbar auf die Tür spuckt", berichtet sie der Angeklagten über ihr friktionsfreies Zusammenleben in ihrem Wohnhaus. Derartige Harmonie herrscht in dem Gemeindebau, in dem die angeklagte 35-Jährige lebt, offensichtlich nicht, weshalb die Unbescholtene nun wegen beharrlicher Verfolgung vulgo Stalking vor Gericht sitzt.

Von Juni 2023 bis zum 19. Jänner soll die Notstandshilfe beziehende Studentin den 29 Jahre alten Herrn M., der auf derselben Stiege in Wien-Simmering wohnt, terrorisiert haben, lautet die Anklage. Nächtliches Sturmläuten, mutwilliges Trampeln und Klopfen in der Wohnung ihrer verstorbenen Großmutter, die über der von Herrn M. liegt, Bespucken seiner Wohnungstür und abfällige Kommentare in den sogenannten sozialen Netzwerken wirft ihr die Staatsanwältin vor.

Schuldig bekennt sich L. nur zu einem Punkt, der schwer zu leugnen ist. "Leider ja", gibt sie zu, dass sie einmal in der Nacht ihren Speichel stoßartig an die Tür des Nachbarn befördert hat. Das ist auch deutlich auf einem der vier Videos zu sehen, die M. als Beweismittel zur Verfügung gestellt hat, aufgenommen mit seiner Videoglocke. Die anderen Vorwürfe bestreitet die Angeklagte aber und ist begierig darauf, ihre Sicht der Dinge zu erzählen.

Dünne Wände als Problem

Vor über zehn Jahren sei sie in den Bau gezogen, "es hat immer Probleme mit einer Partei gegeben. Die sind über eine Dekade gegangen", drückt die Angeklagte sich gewählt aus. "Was für Probleme waren das?", will die Richterin wissen. "Lärmerregung. Wir haben sehr dünne Wände. Im Juni ist die Partei dann zwangsgeräumt worden." Wie sich herausstellte, war Herr M. aber ein Freund des angeblichen Störenfrieds. "Bei einem Polizeieinsatz hat er mich als Psychopathin hingestellt!", beschwert L. sich.

Ab diesem Zeitpunkt habe es ständig Anfeindungen durch M. gegeben, ist sie sich sicher. "Im November bin ich ihm im Hof begegnet, er hat gesagt 'Ich tret' dir die Tür ein!' und hat mich angespuckt!", schildert sie die einzige konkrete Aggression durch den Nachbarn. Das habe zu ihren Spuckattacken geführt und dazu, dass sie beim Passieren von M.s Tür mit ihrem Mittelfinger eine international bekannte Geste machte, was ebenso filmisch dokumentiert ist. Die restlichen Anklagepunkte habe sie aber nicht begangen: "Ich bin nicht der einzige Mensch, der mit ihm ein Problem hat", ist die Österreicherin überzeugt.

"Warum, glauben Sie, installiert Ihr Nachbar überhaupt eine Kamera?", interessiert die Staatsanwältin. "Meiner Meinung nach, um mich zu provozieren. Bei mir wird auch auf die Tür gespuckt!", sieht L. sich als Opfer. Richterin Zöllner hält es nicht für ausgeschlossen, dass M. das technische Hilfsmittel zur Beweissicherung installiert hat.

Nächtliches Sturmläuten

Der 29-Jährige berichtet als Zeuge, dass er seit neun Jahren in dem Gebäude wohnt, seit einem Jahr gebe es Probleme mit der Angeklagten. Wobei er den Zeitraum dann einschränkt: Im Juni habe zunächst das Sturmläuten begonnen. Für zwei bis drei Wochen habe L. zwischen zwei und vier Uhr nachts jeweils zehn Minuten die Gegensprechanlage bedient, ist er überzeugt. "Woher wissen Sie, dass es die Angeklagte war?", fragt Zöllner. "Weil ich sie manchmal gesehen habe, wie sie danach unten geschaut hat, ob sie mich aufgeweckt hat", antwortet der Zeuge.

Danach sei wieder Ruhe gewesen, im Oktober habe dann das "provokante durchgehende Klopfen" in der Wohnung über ihm begonnen, sechs- bis zehnmal in gut drei Wochen. Einmal habe er mit der Taschenlampe im Stiegenhaus gewartet und gesehen, wie die Angeklagte aus der Tür der fraglichen Wohnung kam. An einem Herbsttag habe L. ihn unter einem Fakeprofil auf Facebook, Tiktok und Instagram auch beleidigt. "Sie hat mich 'Kinderficker' und 'Zuhälter' genannt, weil ich einmal in einem Laufhaus gearbeitet habe", zeigt M. sich verärgert. Faktischen Beweis, dass es tatsächlich die Angeklagte war, hat er keinen, jedoch: "Ich hab mit sonst keinem Probleme."

Seit seiner Anzeige sei zwar Ruhe, allerdings habe er am Wochenende einen Zettel vor seiner Tür gefunden, erzählt der Österreicher. Er hat ihn mitgebracht, in roter Schrift steht auf dem DIN-A4-Blatt, dass man ihm Probleme bereiten werde. "Haben Sie das geschrieben?", wendet die Richterin sich an die Angeklagte. "Nein! Es gab schon vorher Zettelschreiber. Es gibt viele Konflikte in dem Haus!", entgegnet die 35-Jährige. Das Verhalten der Nachbarin sei ihm "schwer auf die Nerven gegangen", er habe die Kabeln der Gegensprechanlage in seiner Wohnung herausgerissen, um seine Ruhe zu haben, schildert der Zeuge. Mittlerweile habe er sich aber arrangiert: "Ich nehm die Frau nicht einmal mehr wahr!", stellt M. klar. "Das wäre gut, wenn das wechselseitig so wäre", merkt Zöllner da an.

Rechtskräftiges Urteil

Selbst die Staatsanwältin überlässt es am Ende der Beweiswürdigung des Gerichts, ob die angeklagten Handlungen die nötige Intensität erreicht haben, um strafrechtlich relevant zu sein. Zöllner findet nicht und spricht L. rechtskräftig frei. "Das heißt nicht, dass wir es in Ordnung finden, was Sie gemacht haben. Ich glaube dem Zeugen, dass Sie es waren und das für ihn nervig war. Aber eine beharrliche Verfolgung, die die Lebensführung dauerhaft unzumutbar beeinträchtig, sehe ich nicht", begründet die Richterin ihre Entscheidung.

Da L. demnächst ohnehin ins Ausland übersiedelt, ist Zöllner aber zuversichtlich, dass in dem Haus künftig Frieden herrscht. Am Ende der Verfahrens bittet der Vater der Freigesprochenen, der den Prozess als Zuseher verfolgt hat, eine Einschätzung abgeben zu dürfen. Nachdem die Richterin ihm das Wort erteilt hat, gibt er seine Sichtweise bekannt: "Das Problem in dem Haus ist, dass so wenige arbeiten gehen! Wenn sie nicht so viel Zeit hätten, würden solche Sachen nicht passieren", ist er sich sicher, und Zöllner stimmt ihm zu. (Michael Möseneder, 6.2.2024)