Als in den Morgenstunden des 12. Februar 1934 die Polizei im Hotel Schiff, dem Linzer Parteiheim der Sozialdemokraten, nach Waffen suchen wollte, eskalierte die Lage. Die Schutzbündler widersetzten sich. Es kam zu bewaffneten Kämpfen, die bald auf Wien und mehrere Industriestädte übersprangen. Sowohl die sozialdemokratische Parteileitung als auch die Bundesregierung unter dem seit März 1933 diktatorisch regierenden Engelbert Dollfuß wurden überrascht. Der mehrtägige Aufstand forderte hunderte Tote und Verletzte. Neun überwiegend prominente Schutzbündler wurden standrechtlich verurteilt und hingerichtet.

Februaraufstand 1934
Februaraufstand 1934: Aufständische ergeben sich der Übermacht von Bundesheer, Polizei und Heimwehr.
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Über die Einschätzung des Aufstands stritten schon die Zeitgenossen. Beim regimetreuen Karl Kraus ist die Rede von einer "jammernswerten Kampftruppe, die Heilloses getan, Heilloseres erlitten habe". Auf linker Seite wurden hingegen der Heroismus und der Widerstand gegen den Faschismus gewürdigt. Wie sehen die Einschätzungen 90 Jahre später aus? Der STANDARD ließ dazu Wilhelmine Goldmann und Kurt Bauer diskutieren.

In der sozialdemokratischen Familie Wilhelmine Goldmanns wirkte der Februar 1934 traumatisch nach. Nach Beiträgen im STANDARD zu 1934 und fehlenden Februar-Denkmälern hat sie die damaligen Geschehnisse neu recherchiert und darüber vor kurzem das lesenswerte Buch "Rote Banditen" veröffentlicht. Der Historiker Kurt Bauer veröffentlichte bereits 2019 mit "Der Februaraufstand 1934" ein viel diskutiertes Werk über die Opfer der Kämpfe.

Wilhelmine Goldmann, Kurt Bauer, Februar 1934
Unterschiedliche Blickwinkel, aber nicht völlig verschiedene Bewertungen des Februar 1934: Wilhelmine Goldmann und Kurt Bauer.
Regine Hendrich

STANDARD: Es gibt wohl kein anderes Ereignis in der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, über das die politischen Einschätzungen bis heute so sehr auseinandergehen wie über den 12. Februar 1934. Woran liegt das?

Goldmann: Auf politischer Seite hat es sicher damit zu tun, dass man nach 1945 sich nie mehr richtig mit den Kämpfen 1934 auseinandersetzen wollte, weder seitens der ÖVP noch der SPÖ. Man war sich zwar einig, dass es nicht mehr passieren dürfe, dass Österreicher auf Österreicher schießen, aber so richtig aufgearbeitet wurde das nie. Und so sind auf beiden Seiten Mythen bis heute fortgesponnen worden. Die sind aus politischer Sicht natürlich viel praktischer als die Fakten.

Bauer: Diese Lagermythen spielen sicher eine Rolle. Und zu Mythen gehört auch, dass sie schwer wieder wegzukriegen sind. Sie zu hinterfragen wäre eigentlich die Rolle der Wissenschaft. Aber auch in der Zeitgeschichtsforschung ist man sich hinsichtlich des Februar 1934 ziemlich uneins. Ich erinnere mich an eine Diskussion bei einer Fachtagung vor nicht allzu langer Zeit, bei der einige der wichtigsten Fachvertreter anwesend waren. Einer meinte, dass man einander zwar seit 40 Jahren kenne, beim Februar 1934 aber noch immer über dieselben Dinge streiten würde.

STANDARD: Keinen Konsens scheint es schon einmal bei der Bezeichnung zu geben: War es nun ein Bürgerkrieg, ein Aufstand oder eine Revolte? Sie, Frau Goldmann, verwenden in Ihrem neuen Buch auch den Begriff Bürgerkrieg.

Goldmann: Es war ein Aufstand und nicht wirklich ein Bürgerkrieg – insbesondere, wenn man die Ereignisse in Österreich mit dem Spanischen Bürgerkrieg vergleicht. Es war ein Aufstand der Verzweifelten, der etliche Todesopfer forderte.

Bauer: Die Verwendung des Begriffs "Bürgerkrieg" wurde seitens der Sozialdemokraten natürlich auch strategisch eingesetzt. Ich erinnere nur an Julius Deutschs Schrift "Der Bürgerkrieg in Österreich", die wenige Wochen nach dem Februar 1934 erschien. Damit wollte man das Geschehene möglichst aufwerten – ähnlich wie das auch Otto Bauer getan hat, als er von den "größten heldenhaften Kämpfen der Revolutionsgeschichte aller Länder" schrieb.

STANDARD: Besonders umstritten waren und sind die Opferzahlen, die im Zentrum Ihres Buchs über den Februaraufstand stehen, Herr Bauer. Was ergaben Ihre Recherchen?

Bauer: In der Forschung hat man lange darüber diskutiert, ob es – grob formuliert – eher 200 oder eher 2.000 Tote waren. Ich machte aus dieser Frage ein kleines Projekt, das sich etwas auswuchs und letztlich zu dem Buch wurde, das zum 85. Jahrestag des Februaraufstands 2019 erschien. Bei meinen Recherchen kam ich auf 357 Tote. Was besonders viele Diskussionen – auch im STANDARD – auslöste, war die Verteilung der Opferzahlen: Nach meinen Recherchen waren je 31 Prozent der Toten aufseiten des Republikanischen Schutzbunds und der regierungstreuen Exekutive, aber 38 Prozent Unbeteiligte. Das stellt natürlich auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Aufstands.

STANDARD: "Es war alles so unnötig", berichten auch Zeitzeugen, die in Ihrem Buch, Frau Goldmann, zu Wort kommen. War es das?

Goldmann: Das Zitat bezieht sich konkret auf die Hinrichtung von zwei Schutzbündlern und auf einen erschossenen Heimwehrler. Einer von den Gehenkten verbrachte seine letzte Nacht im Gefängnis mit meinem Vater, der als Schutzbündler ebenfalls eingesperrt wurde. Ob diese Ereignisse hätten vermieden werden können, wenn die Stimmung nicht so aufgeheizt gewesen wäre, ist aus heutiger Sicht schwer zu sagen. Ich möchte aber auch festhalten, dass jene tapferen sozialdemokratischen Kämpferinnen und Kämpfer, die ihr Leben eingesetzt haben, letztlich auch die Ehre der Partei gerettet haben. Denn die Führung der Sozialdemokratie hat meines Erachtens jämmerlich versagt.

STANDARD: Inwieweit waren die Ereignisse im Februar 1934 von den christlichsozialen Machthabern bewusst provoziert worden, weil sie um die Schwäche der Sozialdemokraten wussten?

Bauer: Das ist für mich offenkundig, wenn man sich etwa die Klubprotokolle der Christlichsozialen ansieht. Dollfuß meint da sinngemäß, die Sozis lassen sich alles gefallen, denn sie würden sich sagen, dass die Christlichsozialen immerhin noch nicht die Nazis seien. Er hatte meiner Ansicht nach diese Zwangslage, in der die Sozialdemokraten gesteckt sind, sehr klar erkannt. Und dazu kommt, dass Dollfuß seinerseits – entgegen dem bürgerlichen Mythos – 1933 den Hauptfeind nicht in den Nationalsozialisten erkannte, sondern in den Sozialdemokraten. Man muss ihm aber auch zugestehen, dass der Nationalsozialismus in der Ära Dollfuß strikt bekämpft wurde. Unter den Anhaltehäftlingen in Wöllersdorf zum Beispiel waren rund 80 Prozent Nationalsozialisten und rund 20 Prozent Linke.

STANDARD: Woher kam dieser Hass der Christlichsozialen auf die Sozialdemokraten, dem Sie einen nicht unbeträchtlichen Teil Ihres Buches widmen, Frau Goldmann?

Goldmann: Meine Erklärung dafür geht auf das Jahr 1918 zurück. Es musste ein großer Schock für die Bürgerlichen gewesen sein, als die Sozialdemokraten, die davor nie in einer Machtposition waren, plötzlich das Sagen hatten und die Koalitionsregierung anführten. In diesen ersten zwei Jahren der Ersten Republik wurden unter Ferdinand Hanusch vorbildliche Sozialgesetze geschaffen, die von den Christlichsozialen widerwillig mitgetragen wurden. Das war einer der Ausgangspunkte jener enormen Spannungen, die sich im Laufe der folgenden 14 Jahre immer weiter radikalisiert haben.

STANDARD: Zwischenfrage: Sehen Sie Parallelen zwischen der Zeit der 1920er-Jahre, die letztlich zum Februar 1934 führte, und der Situation heute, rund ein Jahrhundert später?

Goldmann: Ich sehe schon gewisse Ähnlichkeiten – insbesondere, dass der Hass mancher ÖVP-Vertreter auf die Sozialdemokraten immer noch so deutlich ausgeprägt ist, dass sogar vom "roten G'sindl" die Rede ist. Und je mehr die ÖVP freiheitliche Politiken aufnimmt und vertritt, desto mehr spielt sie Kickl und der FPÖ in die Hände. Das ist im Grunde ähnlich dem, was Dollfuß und Schuschnigg gemacht haben – im Glauben, auf diese Weise die Nationalsozialisten kleinzuhalten.

Bauer: Ich würde doch eher die Unterschiede betonen wollen. Wir haben heute keine Parteien mit bewaffneten Milizen, die zu Zehntausenden aufmarschieren. Wir haben auch keine Wirtschaftskrise, die sich nur irgendwie mit dem vergleichen lässt, was in den 1930er-Jahren war, als die Menschen wirklich hungerten.

STANDARD: Frau Goldmann, Sie beschreiben in Ihrem Buch sehr anschaulich, was im Februar 1934 in der niederösterreichischen Arbeiterhochburg Traisen passierte, wo Ihre Familie herkommt und Ihr Vater Franz Lettner Schutzbündler und in der Zweiten Republik sozialdemokratischer Bürgermeister war. Inwieweit war Traisen 1934 repräsentativ für die Ereignisse in anderen Teilen Österreichs?

Goldmann: Was in Traisen geschah, war vergleichsweise undramatisch. Als die Schutzbündler sahen, dass der Generalstreik nicht stattfindet, haben sie die Waffen im Schnee vergraben und sind heimgegangen. Der lokale Schutzbundanführer ist überhaupt im Bett geblieben. Anders war es in der benachbarten Gemeinde Rohrbach, wo die drei gerade erwähnten Todesopfer zu beklagen waren. Typisch war sicher, dass der Republikanische Schutzbund überhaupt schlecht organisiert war und dass es eine ganz schlechte Kommunikation gab, auch zwischen den verschiedenen Arbeiterzentren.

Bauer: Ich denke, dass viele gewusst haben, dass die Lage aussichtslos ist, und meines Erachtens hat Ihr Vater sehr vernünftig gehandelt. In Bruck an der Mur glaubten die Schutzbündler, sie müssten die Kaserne des Sicherheitskorps angreifen. Das war auch einer der wenigen Orte, wo wirklich offen gekämpft wurde. Und da gab es die meisten Toten. Das hat man sich in Traisen erspart.

STANDARD: Was waren die Gründe dafür, dass die Gegenwehr des Schutzbunds gegen die Diktatur vergleichsweise schwach ausfiel und so spät kam?

Goldmann: Die ganze Strategie des Republikanischen Schutzbunds war, wie der Name schon sagt, auf Verteidigung und Schutz der Republik ausgerichtet. Und auf den Schutz der Demokratie, die im März 1933 ausgeschaltet wurde. Die Frage ist, warum man sich so eine bewaffnete Truppe hält, wenn man – wie die sozialdemokratische Parteiführung – im Grunde gar nicht ans Kämpfen denkt. Der linke Flügel der Partei, dem mein Vater angehörte, hat im Übrigen beim sozialdemokratischen Parteitag 1933 bereits kritisiert, warum sich die Parteispitze nach der Ausschaltung des Parlaments so zögerlich verhielt. Aber ein früherer Aufstand wäre wohl ebenso aussichtslos gewesen.

Bauer: Abgesehen von der Schwäche der sozialdemokratischen Führung müssen wir uns die katastrophale Lage der Arbeiterschaft in dieser Zeit vor Augen führen. Die war zermürbt von den langen Jahren der Arbeitslosigkeit und der bitteren Not. Das beförderte eher Apathie als den Willen zum Aufstand. Bei meinen Recherchen habe ich außerdem festgestellt, dass es interessante Altersunterschiede zwischen den Opfern unter den Schutzbündlern im Februar 1934 und jenen der Nationalsozialisten beim Juliputsch fünf Monate später gab: Die Nationalsozialisten waren viel jünger. Ein sozialdemokratischer Familienvater Mitte 30, der daheim drei Kinder und eine Frau hat, war wohl eher froh, wenn er nicht in den Kampf gehen musste, als ein junger Nazi. Noch jünger waren nur die Kommunisten.

Der von Einschüssen übersäte Goethehof in Kaisermühlen in Wien, ein Zentrum der Februarkämpfe.
Archiv Seemann / brandstaetter / picturedesk.com

STANDARD: Apropos: Im sehenswerten Film "Tränen statt Gewehre" von Karin Berger beschreibt die Zeitzeugin Anni Haider, die 1934 im Goethehof in Wien aufseiten des Schutzbunds kämpfte, ihre bittere Enttäuschung über die schlechte Vorbereitung des Widerstands. Sie wurde wenig später Kommunistin. War das typisch?

Bauer: Dass vor allem linke Sozialdemokraten zu den Kommunisten überwechselten, kam nach dem Februar 1934 relativ oft vor. Andere bekannte Beispiele sind Ernst Fischer oder Leopold Spira. Die Zeit zwischen 1934 und 1945 ist auch die einzige, in der die Kommunisten in Österreich wirklich wichtig waren, indem sie im Widerstand eine sehr große, verlustreiche Rolle gespielt haben – meiner Ansicht nach unnötig verlustreich. Aber das zu bewerten ist wieder eine andere Diskussion.

STANDARD: Kommen wir in die Gegenwart. Demnächst gibt es wieder diverse Gedenkfeierlichkeiten zum 12. Februar. Wie würde Ihrer Meinung nach eine gelungene Erinnerungspolitik aussehen? Und besteht Hoffnung, gewisse Mythen um den 12. Februar auszuräumen?

Goldmann: Ich glaube, dazu bräuchte es eine ehrliche historische Aufarbeitung, eine Art Historikerkommission mit internationaler Beteiligung. Mit deren Ergebnissen sollte sich dann die Politik auseinandersetzen. Aber dazu scheint der Wille zu fehlen – auf beiden Seiten.

Bauer: Das hat wohl auch damit zu tun, dass mit dem 12. Februar 1934 heute bei einer Wahl keine Stimme zu gewinnen ist. Ich denke, es wäre schon viel gewonnen, wenn es unter den Jungen etwas mehr Wissen über die damaligen Ereignisse gäbe.

Goldmann: Denn ohne dieses Wissen um das, was vor 90 Jahren geschah, ist auch Österreichs Realverfassung schwer verständlich. Also warum es in Österreich beispielsweise bis heute einen roten und einen schwarzen Autofahrerklub gibt. (Moderation: Klaus Taschwer, 10.2.2024)