Präsident Macron vor dem Élysée-Palast.
Emmanuel Macron denkt über eine Ausdehnung des nuklearen Schutzschirms nach.
EPA/CHRISTOPHE PETIT TESSON

Frankreich verfügt über 300 nukleare Sprengköpfe, die von U-Booten und Rafale-Jägern aus starten können. Das sind bedeutend weniger als die jeweils mehr als 5.000 Atombomben Russlands und der USA. Aber sie genügen laut Verteidigungsminister Sébastien Lecornu "vollständig" zur nuklearen Abschreckung, einem Eckpfeiler der nationalen Unabhängigkeit.

Vor vier Jahren hatte Präsident Emmanuel Macron noch eine leichte Reduktion der Anzahl der Sprengköpfe in Aussicht gestellt. Davon ist angesichts des aggressiven Verhaltens Russlands nicht mehr die Rede. Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine werden die Sprengköpfe systematisch modernisiert; U-Boote laufen doppelt so häufig aus. Vor drei Monaten testete Paris eine neue nukleare Langstreckenrakete mit einer Reichweite von 10.000 Kilometern.

Einzige Nuklearmacht in der EU

Der überzeugte Europäer Macron denkt zudem laut über eine Ausdehnung des nuklearen Schutzschirms über die französischen Grenzen hinaus nach. Nicht zufällig tat er dies vergangene Woche bei einem Besuch des angehenden Nato-Mitglieds Schweden. In einer Rede vor einer Militärakademie in Stockholm erklärte er: "Unsere vitalen Interessen sind heute weitgehend europäisch, was uns bei der nuklearen Abschreckung eine spezielle Verantwortung einräumt", sagte er, sichtbar jedes Wort abwägend.

Frankreich übernimmt diese "Verantwortung", weil es seit dem Austritt Großbritanniens aus der EU die einzige Nuklearmacht in der Union ist. Macron umschreibt damit nicht zum ersten Mal seine Vision einer Verteidigung Europas, falls sich die USA abwenden sollten – vor allem wenn Donald Trump Ende des Jahres erneut US-Präsident werden sollte.

Beistandshilfe

Wie heikel die Frage ist, offenbart Macrons Bemühen, bei seinem Angebot an die europäischen Partner nicht zu weit zu gehen. Er baut damit auch jüngsten Vorhaltungen aus Berlin vor, sein Land falle bei der Waffenhilfe an die Ukraine zurück. In Paris gibt es andere – geharnischte – Einwände. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen, die Macron 2027 als Staatspräsidentin nachfolgen will, wirft ihm vor, er verrate die nationale Mission der "Force de frappe". "Unsere Nuklearkraft zu europäisieren ist verrückt", polterte sie.

Der Staatschef mache mit Deutschland gemeinsame Sache, er habe Berlin im bilateralen Abkommen von Aachen 2021 zugestanden, "die französische Atommacht zu teilen". Davon kann keine Rede sein. In Wahrheit hatten sich Berlin und Paris "jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung" im Fall eines Fremdangriffs zugesagt, was doch sehr viel weniger präzise ist.

Force de frappe

Auch die radikallinke Partei der "insoumis" (Unbeugsamen) wirft Macron vor, er bemühe "Frankreichs Verantwortung, seine nukleare Abschreckung Europa zur Verfügung zu stellen". Diese Formulierung trifft ebenfalls nicht zu. Die geballte Kritik von links und rechts gegen den Proeuropäer Macrons zeigt aber, wie gering dessen Spielraum ist, die Force de frappe europaweit ins Spiel zu bringen. Ohne sie ist aber jede Debatte über eine europäische Verteidigungspolitik unvollständig, wenn nicht hinfällig.

Macrons Vertrauter Lecornu argumentiert zudem an die Adresse Le Pens, die Ausweitung des französischen Nuklearschirmes entspräche durchaus nationalen Interessen: Als Teilersatz für den amerikanischen Schutz würde er die Stellung Frankreichs innerhalb der EU stärken.

Roter Knopf

Der Entrüstungssturm der "nationalen" Parteien in Paris führt klar vor Augen auf, dass eine europäisierte Force de frappe derzeit keinerlei Realisierungschance hat. Aber letztlich denkt auch Macron nicht daran, den "roten Knopf" für den Abschuss französischer Atomraketen mit Partnerländern zu teilen. Dieser Atomcode folgt dem französischen Präsidenten, der zugleich oberster Armeechef ist, in einem Lederkoffer überall hin; selbst der Premierminister und die Parlamentspräsidenten haben keinen Zugriff darauf.

Macrons vorsichtiges Sondieren zum Thema Atomschirmausweitung stößt deshalb in den meisten EU-Hauptstädten auf wenig Zuspruch. In Deutschland plädiert der grüne Ex-Außenminister und -Vizekanzler Joschka Fischer ziemlich allein für die Schaffung einer europäischen A-Bombe, um die Abhängigkeit des Kontinents von den USA zu verringern.

Strategischer Dialog stockt

Darauf angesprochen, meinte Kanzler Olaf Scholz unlängst in einem Interview mit der "Zeit", er wisse nicht, "was diese Diskussion heute soll". Wichtig sei es vielmehr, die transatlantische Kooperation mit Washington hochzuhalten. Er wolle deshalb "die nukleare Teilhabe mit den USA und in der Nato fortsetzen". Womit er auch bedeutete, dass die "Teilnahme" an der französischen Force de frappe für ihn kein Thema ist.

Etwas offener gibt sich die Ausschussvorsitzende des Bundestags, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP): Auf eine Journalistenfrage, ob die französischen Atomwaffen ganz Europa schützen sollten, vertagte sie eine Antwort auf die Zeit nach den US-Wahlen, um Trump keine Wahlkampfmunition zu liefern.

Der von Macron angebotene "strategische Dialog" kommt damit kaum vom Fleck. Angesichts des Ukrainekriegs und auch der Möglichkeit eines Wahlsiegs Le Pens in Paris stellt sich die Frage, wie viel Zeit den Europäern bleibt. Handeln sie erst, wenn es brennt, drohen die Bemühungen für einen geeintes verteidigungspolitisches oder gar militärisches Konzept zu spät zu kommen. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar ist damit für Gesprächsstoff gesorgt. (Stefan Brändle aus Paris, 7.2.2024)