Neben bekannten italienischen Schlager-, Pop- und Rockgrößen wie Annalisa, Negramaro, Loredana Bertè, Angelina Mango und Mahmood sowie Gaststars wie die Hollywoodikonen John Travolta und Russell Crowe hatte das Song-Festival in diesem Jahr noch eine weitere Attraktion: die Kuh Ercolina. Ob sie tatsächlich wie geplant auf die Bühne des Ariston-Theaters geführt wird, wo das Festival traditionsgemäß stattfindet, war am Donnerstagnachmittag noch unklar. Aber Ercolina hatte ihren ersten großen Auftritt schon am Dienstag gehabt, als sie in Sanremo eintraf und von ihrem Besitzer auf der prächtigen Uferpromenade der Festivalstadt spazieren geführt wurde. Mit sanftem Blick schaute das schwarz-weiß gefleckte Tier geduldig in Dutzende von TV-Kameras und ließ sich dabei sogar melken.

Kuh an der Meerespromenade
Ercolina stahl so manch musikalischerem Lebewesen in Sanremo die Show.
EPA/RICCARDO ANTIMIANI

Normalerweise lebt Ercolina im kleinen Ort Landirago in der Lombardei. Ihr Besitzer hat sie nach Sanremo gebracht, um dort zusammen mit anderen Landwirten auf seine Probleme aufmerksam zu machen. Dass die Bauernproteste in diesem Jahr in Sanremo zum Thema wurden, war unausweichlich: Das Song-Festival ist nun einmal mehr als ein Musikwettbewerb. Der Event, der seit den Fünfzigerjahren Millionen von Zuschauern an den TV-Bildschirm fesselt, nimmt auch immer gesellschaftliche Strömungen auf und bildet sie zugleich ab: Sanremo ist eine Momentaufnahme der italienischen Gesellschaft und dessen, was sie gerade bewegt, sozusagen ein "Selfie der Nation". Und für die Bauern gibt es im ganzen Land keine bessere Bühne, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen: Allein am Dienstag haben bis zu 16,8 Millionen Italienerinnen und Italiener das Festival im TV verfolgt. Das entspricht einer Einschaltquote von 65 Prozent, nichts Ungewöhnliches bei Sanremo.

"Bella Ciao" ohne Verve

Wobei die Proteste in Italien, zumindest bis jetzt, sehr viel harmloser ausgefallen sind als etwa in Deutschland oder Frankreich. Das hängt damit zusammen, dass die rechtsnationale Regierung von Giorgia Meloni die Bauern schon immer als ihre Stammwähler betrachtet und sich ihren Protest zu eigen gemacht hat. Gleichzeitig werden in Sanremo politische Statements auch immer gleich wieder banalisiert. So hat der Showmaster und Moderator Amadeus, der seit fünf Jahren die künstlerische Leitung des Festivals innehat, am Eröffnungsabend mit dem Komiker Fiorello das Partisanenlied "Bella Ciao" gesungen. Er wollte damit wohl beweisen, dass der Staatssender Rai, der das Festival organisiert und überträgt, 16 Monate nach Giorgia Melonis Amtsantritt als Ministerpräsidentin nicht zu "Telemeloni" geworden sei, wie die Opposition mit gutem Grund moniert. Ein unpassenderes "Bella Ciao" hat man selten gesehen und gehört.

Aber so ist das "Festival della Canzone Italiana di Sanremo", wie der Wettbewerb offiziell heißt: Es lebt eben auch von sorgsam geplanten Provokationen und von inszenierten großen Gefühlen. Zur Befriedigung der Letzteren hat Amadeus in diesem Jahr Daniela Di Maggio eingeladen, die Mutter von Giovanni "Giogiò" Cutolo. Der 24-jährige Musiker und Student des Konservatoriums von Neapel war im vergangenen Sommer in seiner Heimatstadt wegen eines banalen Streits von einem Minderjährigen niedergeschossen und tödlich verletzt worden. Auf der Bühne des Ariston verlas die Mutter einen Brief an ihren toten Sohn, in dem sie dem Publikum erzählte, dass der größte Traum von "Giogiò" gewesen sei, einmal bei einem Song-Festival im Symphonieorchester von Sanremo mitspielen zu können. Nicht nur Amadeus hatte dabei Tränen in den Augen, sondern vermutlich auch die 16,8 Millionen Italienerinnen und Italiener vor dem TV.

Aber im Ariston – und das ist in Sanremo trotz Ercolina, Politik und all der kleineren und größeren Inszenierungen immer noch die Hauptsache – wird jeden Abend auch Musik gespielt. Insgesamt treten 30 Sängerinnen, Sänger und Bands auf; Samstag wird der Sieger oder die Siegerin gekürt, der/die Italien dann auch beim Eurovision Song Contest (ESC) vertreten darf. Es gibt in Sanremo mehrere Jurys, was ebenfalls immer wieder zu Polemiken führt. Eine davon – die Jury der Journalistinnen und Journalisten – kürte am Dienstag die 73-jährige Loredana Bertè zur Favoritin. (Dominik Straub aus Rom, 9.2.2024)