Manchmal dauert sie eine Viertelstunde, manchmal eine halbe. Ein andermal wieder keine fünf Minuten. Die Zeitspanne zwischen dem Heulen der Sirenen von Odessa, die vor einem Luftangriff warnen, und dem Einsetzen des Kanonendonners der Luftabwehr, die die heranfliegenden Drohnen und Raketen ins Visier nimmt, variiert. Für die Bewohner der Hafenstadt am Schwarzen Meer stellt die Zeit dazwischen eine spezifische Art Vorhölle dar.

Diese Schule wurde bei dem Angriff schwer beschädigt.
REUTERS/STRINGER

Dank der über die sozialen Medien verbreiteten Informationen der lokalen Militärverwaltung wissen sie prinzipiell, was auf sie zukommt; aber nicht wann und wo genau. Wenn der Angriff nach Beginn der nächtlichen Ausgangssperre erfolgt, zeigt sich die Szene entsprechend gespenstisch. Während das Gejaule streunender Katzen und Hunde die Geräuschkulisse der leeren Straßen dominiert, bohren sich massive Scheinwerferkegel durch den um diese Jahreszeit meist wolkenverhangenen Himmel. Je hektischer ihre Bewegungen werden, desto mehr steigt die Gewissheit, dass es Zeit wird, Schutz zu suchen. Und wenn sie das, wonach sie Ausschau halten, nicht oder zu spät erleuchten: Das Wort Inferno kommt dem, was dann passiert, vielleicht am nächsten. Nach ein paar Wochen relativer Ruhe war es in Odessa in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag wieder so weit.

Flak im Dauerfeuer

Obwohl die Flak der ukrainischen Verteidiger im Dauerfeuermodus arbeitete, schafften es mindestens zwei von insgesamt fünf auf die Region gerichteten Angriffsdrohnen bis ins Herz der Stadt. Rund eine halbe Stunde legten sich eine Abfolge von Explosionen, das für die unbemannten Flugkörper typische, enorm laute Gedröhn, das an eine Kreissäge erinnert, und das Prasseln der Projektile der Luftabwehr über die historische Altstadt und den zentralen Teil des Hafens. Wiewohl sich viele Bewohner dieses Teils von Odessa in fast zwei Jahren Krieg an einiges gewöhnt haben, machten sich dutzende von ihnen Richtung Oper auf. Die unterirdischen Gewölbe des traditionellen Wahrzeichens der Stadt dienen längst auch als Schutzbunker, während wie außerhalb der Vorstellungszeiten.

Eine Katze spaziert zwischen Glassplittern.
IMAGO/Nina Liashonok

Fast alle der hierher Geflüchteten blieben nur kurz. Um vier Minuten vor eins gab die Militärverwaltung per Telegram Entwarnung: Angriff vorbei, bis auf weiteres keine unmittelbare Gefahr mehr. Erkenntnisse über das Ausmaß des Schadens wurden erst im Lauf des Donnerstagvormittags bekannt. Zwei Streifenpolizisten wurden durch herumfliegendes Schrapnell so schwer verwundet, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Neben einem komplett zerstörten Gebäude, das unter anderem ein Studentenwohnheim beherbergte – seine Bewohner waren rechtzeitig evakuiert worden –, wurden dutzende weitere Häuser beschädigt. Für die kommenden Wochen erwarten die lokalen Militärbehörden eine Erhöhung des Drucks auf Odessa. Laut der Sprecherin Natalia Humeniuk hat Russland die Präsenz seiner mit Cruise-Missiles und anderen Raketentypen bestückten Schlachtschiffe in dem Teil des Schwarzen Meers verstärkt, den es kontrolliert. (Klaus Stimeder aus Odessa, 8.2.2024)