Schwarz-weiß-Skizzen von
Sogenannte Gaunerzinken sollten "fahrendes Volk" über Bewohnerinnen und Bewohner einer Wohnung informieren: Wohnen dort reiche Menschen (Zeichen oben links; weiter gegen den Uhrzeigersinn)? Eine alleinstehende Person? Nur Männer? Bissige Hunde? Sollte man hier Frömmigkeit vorspielen, um etwas zu bekommen? Komplexere Zinken gibt es auch, der Hahn steht meist für Verrat.
Der Standard / Armin Karner

Als Martin Puchner noch ein kleiner Bub war und in den 1970er-Jahren in Nürnberg lebte, wunderte er sich, weshalb immer wieder fremde Reisende vor der Haustür standen. Sie baten um Essen und Trinken, seine Mutter schmierte bereitwillig Butterbrote. Als sein Onkel eines Tages die Familie in Nürnberg besuchte, entdeckte er in der Nähe der Tür an einer unauffälligen Stelle ein eingekreistes Kreuz, einen Zinken. Dieses Zeichen – das Wort "Zinken" könnte auf das lateinische "signum" zurückgehen – informierte Eingeweihte über die gastfreundliche Bewohnerin.

Ob eingeritzt oder wie kleine Graffiti gemalt: Sogenannte Gaunerzinken wurden jahrhundertelang von "fahrendem Volk" genutzt, wie auch die Sprache Rotwelsch. Martin Puchner, heute Literaturwissenschafter an der Harvard University in den USA, hat sich intensiv mit beidem beschäftigt und sein Wissen im Buch "Die Sprache der Vagabunden" festgehalten. Bettler, Diebinnen, Sinti und Romnja tauschten sich aus, warnten einander vor bissigen Hunden oder machten auf leichte Beute aufmerksam.

Die Sprache der Straße

Rotwelsch, das im deutschen Sprachraum gesprochen wurde, ist dem Deutschen sehr ähnlich. Durchwoben ist es mit Wörtern aus dem Jiddischen, es gibt zudem welche aus dem Lateinischen und dem Romani, der Sprache der Sinti und Roma. Bekannt ist etwa "Schmiere stehen", abgeleitet vom jiddischen "schmiro" für Wächter; die "Schmiere" ist für den Rotwelschkenner ein Polizist oder Wachposten.

Manche Wörter stehen dem Wiener Dialekt nahe, kaum lässt sich nachvollziehen, ob ein Begriff aus dem Jiddischen oder über den Umweg Rotwelsch als "Unterweltjargon" ins Wienerische kam. "Rotwelsch" selbst bedeutet etwa "fremdartige Sprache der Bettler". Im Gegensatz zu dieser Fremdbezeichnung nannten Eingeweihte sie auch "kochemer loschn" – die Sprache der Wissenden oder Weisen.

Diese Wissenden verbrachten einen wichtigen Teil ihres Lebens unterwegs, auf der Straße. Landstreicher, Viehhändler, Schaustellerinnen, Handwerker, Bettelmönche, Studenten, Soldaten: Seit dem Spätmittelalter zählten sie oft zu den Vagabunden, die dorthin reisten, wo sie gerade über die Runden kommen konnten. Wie jüdische Händler mussten sie sich danach richten, wo ihnen nicht verboten wurde, sich aufzuhalten oder niederzulassen.

Es handelte sich insgesamt also um eine sehr mobile Gruppe, die ethnisch oder religiös nicht einheitlich war, betont Puchner: "Rotwelsch stellt sich vielen geläufigen Identitätskategorien entgegen." Ihre Kommunikation war von ihrem Milieu, ihrer Lebensform, geprägt. Weil sich die Lebenswelten überschnitten, fanden jiddische, hebräische, aber auch slawische und Romani-Wörter ihren Weg in den Diskurs. Ob die Sprache nun eher Dialekt, Soziolekt oder Jargon ist, darüber diskutieren manche Fachleute noch heute.

Literaturwissenschafter Martin Puchner mit Brille und einem schwarzen Shirt
Martin Puchner ist Literaturwissenschafter und Autor und befasste sich auch familiär bedingt mit der Sprachvariante Rotwelsch.
Johannes Marburg

Aktive Sprecherinnen und Sprecher dürfte es nur mehr wenige geben. Die Gruppe der Jenischen, die wie Sinti und Roma zu den Fahrenden gehört, führt eine Variante des Rotwelsch – die jenische Sprache – fort. In Österreich kämpfen sie noch für die Anerkennung als nationale Minderheit.

Verschwundene Zinken

Mit Zinken als Markierung für potenzielle Einbrecher scheint zumindest in Österreich Schluss zu sein: "Ich traue mich zu sagen, dass es das überhaupt nicht mehr gibt", sagt Hans-Peter Seidl, der im Bundeskriminalamt den Fachbereich Einbruchsdiebstahl leitet. Die Listen, die auch in jüngerer Vergangenheit publiziert wurden, seien Kopien aus den 70er- und 80er-Jahren. Nicht immer haben die dargestellten Zeichen eine einheitliche Bedeutung. Jedenfalls würden sich Verbrecher in Zeiten von schnell geteilten Fotos und GPS-Daten per Smartphone kaum mehr über Markierungen an Türen verständigen. Gruppen, die international reisen und Einbrüche begehen, sind "teilweise technisch weiter entwickelt als wir von der Polizei", betont Seidl.

Er vermutet: Wenn man ähnliche Symbole in der Nähe eines Hauseingangs findet, stammen sie von Zeitungszustellern. Sie können markieren, welche Zeitung eine Abonnentin erhält oder wo sie abgelegt werden soll, um etwa Zustellern mit Verständigungsproblemen zu helfen – legal sei das aber nicht. Einbrechern gehe es nicht mehr darum, zu zeigen, wo ein Hund lebt oder wo es viel zu holen gibt.

Rotwelsch und Antisemitismus

Am Rand der Legalität, wurden die Fahrenden schon immer von vielen misstrauisch beäugt. Ein deklarierter Feind war Martin Luther: Er gab eine Art Rotwelsch-Wörterbuch neu heraus, das gleichzeitig vor verschiedenen Typen fahrender Betrüger warnte – den "Liber Vagatorum". Dass viele Wörter dem Jiddischen und Hebräischen entstammten, war für den Antisemiten Luther ein gefundenes Fressen: Durch das Rotwelsch konnte er Juden, Bettler und Kriminelle zusammenwerfen und gegen alle gleichzeitig wettern. Dabei deuten historische Quellen zu Rotwelschsprechern darauf hin, dass die meisten von ihnen Christen waren.

Gaunerzinken Hakenkreuz

Die Geschichte der sogenannten Gaunersprache ist auch die ihrer versuchten Unterdrückung – und des Verfolgens und Vertreibens ihrer Sprecherinnen und Sprecher, auch im Nationalsozialismus. Hinweise darauf fand Puchner in seiner eigenen Familienbiografie: Sein Großvater, ein Archivar, schrieb 1934 einen Artikel über "Familiennamen als Rassemerkmal", in dem er sich über die Namens- und Sprachvermischung in Deutschland durch das Jiddische und auch Rotwelsch beschwerte. Als sich Puchner traute, seinen Vater darauf anzusprechen, zeigte dieser ihm ein altes Foto des Großvaters. Auf einem Abzeichen am Anzug war ein spezieller "Gaunerzinken" zu erkennen, nämlich ein Hakenkreuz.

In "Mein Kampf" schrieb Adolf Hitler über Jiddisch als Geheimsprache. Bei Rotwelsch schwingt laut Literaturwissenschafter Puchner ebenfalls die Fantasie mit, "dass sich im Hinterzimmer Diebe zusammentun und eine geheime Sprache austüfteln, die die Polizei nicht versteht". Aber da es sich bei Quellen über Rotwelsch vor allem um Polizeiakten und Texte ihrer "Feinde" handelt, ist er diesbezüglich skeptisch geworden. "Für eine Plansprache à la Esperanto ist Rotwelsch zu alt und zu organisch."

Puchner hält es für wahrscheinlich, dass auch Adolf Hitler mit Rotwelsch in Berührung kam. Als mittelloser Maler schlief er wie Wanderburschen und Stadtstreicher in Wiener Obdachlosenheimen. Damals dürfte sein Ziel entstanden sein, "artfremde Elemente" aus der deutschen Gesellschaft zu entfernen. Ein Gedanke, der sich erschreckend in aktuellen rechtsextremen Plänen spiegelt. "Rotwelsch stand für Migration in ihrer reinsten Form", hält der Literaturwissenschafter fest. Er plädiert für mehr Verständnis für Menschen ohne Wohnsitz, ob freiwillig oder nicht, und andere Minderheiten, die von Entbehrung zu erzählen wissen. Gruppen, die in der Vergangenheit Wegweiser hinterließen in einer Welt, die ihnen oft feindlich gesinnt war. (Julia Sica, 18.2.2024)