Über zwei Jahre hinweg hat Nikolaus Geyrhalter den Stillstand in einer Millionenstadt dokumentiert.
Über zwei Jahre hinweg hat Nikolaus Geyrhalter den Stillstand in einer Millionenstadt dokumentiert.
NGF

Von einem Tag auf den anderen war da nur mehr die Leere. Als die Welt im März 2020 beschlossen hat, stillzustehen, wagte sich der Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter als Gegenwartschronist trotzdem – oder gerade deswegen – nach draußen. Dorthin, wo damals kaum jemand war. In 137 langsamen Minuten dokumentiert er mit einem zentrierten, statischen Blick chronologisch die Pandemie.

Erster Lockdown: Solidarität mit den Mitmenschen, Ernst Molden spielt ein Balkonkonzert, und Unmengen an Schutzutensilien werden am menschenleeren Flughafen angeliefert. Man ist noch optimistisch. In diesen seltsamen Zeiten wird es zur neuen Normalität, sich täglich Wattestäbchen tief in die Nase einzuführen, und der Desinfektionsmittelverbrauch steigt auf ein Allzeithoch an. Menschen trifft man keine. Wenn es bei einem einsamen Spaziergang dann doch einmal zu einer zufälligen Begegnung mit einem bekannten Gesicht kommen sollte, setzt Überforderung an der Stelle ein, wo sonst die sozial adäquate Begrüßung steht – seltsame Verrenkungen mit Ellenbogen und Fuß halten Einzug in den Alltag.

Gesichter einer Krise

Geyrhalter zeichnet diese Zeiten präzise, fast schon minutiös nach, immer wieder unterbrochen von Interviewpassagen mit den Menschen, die trotz des Stillstands ihrer Arbeit umso intensiver nachgehen mussten. Eine Ärztin erzählt von Triage: Bei Überlastung müssen die Patienten mit den schlechtesten Überlebenschancen draußen bleiben. Das Krankenhauspersonal ist müde, die Lehrerinnen und Lehrer gestresst, und im Hintergrund laufen politische Prozesse ab, die notwendig sind, wenn man bei einer Millionenstadt wie Wien einfach die Stopp-Taste drückt.

"Auf Dauer ist nicht gut, was da passiert", sagt der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker während einer Rauchpause am Rathausbalkon. Ihn begleitet das Filmteam länger, man sieht ihn öfter rauchend. Sein Job ist gerade besonders stressig. Seufzend blickt er auf die gespenstisch stille Stadt hinunter, man hört die Vögel zirpen, so laut wie noch nie zuvor, sagt Hacker.

STILLSTAND Trailer
Ein Film von Nikolaus Geyrhalter
Geyrhalterfilm

Er wünscht sich den Normalmodus zurück. Sogar die Autos und den Stau, der da um diese Uhrzeit eigentlich sein sollte. Dann geht es weiter zum nächsten Termin. Der Regisseur bemüht sich, ein differenziertes Bild nachzuzeichnen, auch die zusammengewürfelten Menschenmassen, die auf der Wiener Ringstraße gegen die Maßnahmen demonstrieren, bekommen ihren Platz. Geyrhalter macht trotzdem relativ deutlich, was er von ihnen hält.

Stillstand ist ein faszinierendes und notwendiges Zeitdokument, für das die Welt vielleicht noch gar nicht bereit ist. Zu tief sind die Gräben noch, die diese Krise in der Gesellschaft hinterlassen hat. In einer Szene diskutieren mehrere Jugendliche, ob sie eine Lost Generation sind. Man ist sich nicht einig. "Wie viele Erwachsene kennst du, die nicht lost sind?", wirft ein Mädchen ein. Vielleicht ist es das, was die Pandemie zum Vorschein gebracht hat: dass sowieso niemand wirklich weiß, was er tut. (Jakob Thaller, 9.2.2024)