Hannah Arendt
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Kant oder Kickl? Können Erkenntnisse von Philosophinnen und Philosophen genutzt werden, um die Gegenwart luzid zu machen, um der Vita activa als analytisches Vorfeld eine gesteigerte Zielintegrität zu verleihen? Auf Englisch heißt dies "Life Lessons": politische Philosophie nicht zwecks Hedonismus-Optimierung lesen, sondern um politische Sachverhalte zu analysieren.

Akzeptanz der Marginalität

Dabei gern visitiert: eine Denkerin des 20. Jahrhunderts, Hannah Arendt (1906–1975). Agnes Heller erklärte dies so: weil Arendt "der Versuchung widerstanden hat, ein System zu schaffen, weil sie alle ‚Ismen‘ verabscheute, weil sie die Marginalität akzeptierte, ohne sich damit selbst wehzutun oder zu verbittern. Weil sie in den Begriffen von Vergänglichkeit und Endlichkeit dachte."

Arendt meinte über ihr Denken, "es geht mir um nichts mehr, als dem nachzudenken, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind". Darüber legt Lyndsey Stonebridge, Professorin für Humanities and Human Rights in Birmingham, einen Langessay vor, unterfüttert mit biografischen Schilderungen, wobei sie sich auf die Lebensbeschreibung Elisabeth Young-Bruehls stützt und Reiseimpressionen einflicht – sie fuhr europäische Lebens- und Reisestationen Arendts nach.

Populismus und die anderen

Eine "Unterhaltung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit" soll dieses Buch sein. Stonebridge fragt: Wie konnte und kann politische Lüge gut funktionieren? An welchem Punkt beginnt die Fabrikation von Bildern die Wirklichkeit zu beeinflussen? Wann schlagen völlig abstruse Fiktionen in Grundüberzeugungen um, die Menschen hegen und dabei alle logischen oder sittlich-moralischen Gegenargumente abprallen lassen?

Pointiert bringt sie anhand von Arendt die Wirkkraft und Mechanismen des Populismus auf den Punkt. Es gelingt Stonebridge, deren wohl zentrale politische Einsicht stupend in einen Satz zu destillieren: "Echte Freiheit erfordert die Gegenwart anderer, damit wir unseren Wirklichkeitssinn mit ihren Ansichten und ihrem Leben abgleichen, Urteile fällen, prüfen und lernen können."

Fast ihr ganzes Leben beschäftigte sich Arendt mit Augustinus von Hippo. Liebe,Caritas, Nächstenliebe waren – und darüber sinniert Stonebridges eindringlich – beim Kirchenvater der Sinn des Seins. Die Liebe zwinge, in der Zeit zu existieren, denn sei Zufriedenheit in der Liebe nicht stets etwas, was man sich für die Zukunft vorstelle?

Liebe und Natalität

In einer Notiz hielt Arendt fest, die Menschen würden "auf eine nicht auszudenkende ironische Weise" erst dann zu Menschen werden, wenn sie sich verliebten. Liebe, liest man in Vita activa, beschere Natalität, sie bringe Neues in die Welt, etwas, das individuell sei, das akzentuierte Individualität erschaffe und das immer wieder ein neuer Anfang der Welt sei.

Ein Leben ohne Liebe sei, das wurde im Spätwerk immer stärker von Arendt geschärft, sinnlos, nicht nur für sich selbst, vielmehr für alle. Liebe ist die Urform des Seins, unverzichtbar, bereichernd, nötig. Denn: Liebe ist die vorpolitische Bedingung für ein, für unser gemeinsames In-der-Welt-Sein. Liebesdefizite sind reduktionistisch – sie mindern die menschliche Verschiedenheit – und haben verheerende Folgen, von der Tyrannis bis zum Genozid.

Frei, die Welt zu verändern

Wir sind frei, die Welt zu verändern ist angenehm zu lesen, da mit leichter Hand zu Papier gebracht. Zugleich ist dies der Malus. Denn bei der Parallelisierung der Geschehnisse von Flucht, Exil und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und Demontagen der Demokratie im 21. fordert Stonebridges Darstellung intellektuell nur dezent heraus.

Das Buch mutet an wie eine Einführung für jene, die immer schon wissen wollten, ob Arendts politische Philosophie tatsächlich auf das Heute umlegbar und eben nicht nur antiquarisch interessant ist. Die jüngsten Bücher von Thomas Meyer oder Marie Luise Knott sind Arendt adäquater, da niveauvoller.

Noch besser: Arendt im Original lesen. Und verstehen. "Verstehen", schrieb sie, "heißt die Last, die unser Jahrhundert uns auferlegt hat, untersuchen und bewusst ertragen – und zwar in einer Weise, die weder deren Existenz leugnet noch sich unter deren Gewicht duckt. Kurz gesagt: Verstehen heißt, unvoreingenommen und aufmerksam der Wirklichkeit, wie immer sie ausschauen mag, ins Gesicht zu sehen und ihr zu widerstehen." (Alexander Kluy, 9.2.2024)