Einer der Beschwerdeklassiker, mit denen der Kundenservice der Wiener Linien immer wieder konfrontiert sind, lautet: "Der Fahrer des Busses XY hat mir vor der Nase die Türe zugemacht, das ist eine Frechheit!" Ist dabei also wirklich eine Prise Bösartigkeit des Fahrpersonals im Spiel, oder walten ganz andere Kräfte? Martin Huber, Leiter des Referats Angebotsplanung, erklärt es so: "Aus der Sicht der Fahrgäste ist die Erwartung, dass alles genau auf mich abgestimmt sein soll, natürlich berechtigt. Aber wenn der Fahrgast den Eindruck hat, dass es jedes Mal für ihn beim Umsteigen nicht passt, steht dem natürlich die Realität entgegen."

Martin Huber und Michael Neumann vor einem Stadtplan
Martin Huber und Michael Neumann von den Wiener Linien planen, wann bei welchem Bus die Türen zugehen – egal ob da noch wer hinrennt oder nicht.
© Christian Fischer

Und dieser Realität liegt der Finanzierungsvertrag der Wiener Linien mit der Stadt Wien zugrunde, der ÖPNV-Vertrag, in dem die MindestStandards festgelegt werden, die auf dem festgelegten Netz erfüllt werden müssen: In der Hauptverkehrszeit planmäßig Fünf-Minuten-Intervalle bei der U-Bahn und Zehn-Minuten-Intervalle an der Oberfläche im dicht verbauten Gebiet sowie 30 Minuten an der Peripherie bei einer durchschnittlichen Auslastung von 75 Prozent zur "Spitzenhalbestunde".

Aus diesem definierten Angebot leiten sich Art und Größe der eingesetzten Fahrzeuge, die Arbeitszeit des Personals sowie die Intervalle der Durchfahrtszeiten in den Stationen ab. "Diese MindestStandards", sagt Huber, "übererfüllen wir aber bei weitem. So fahren wir auf den U-Bahn-Strecken ein doppelt so dichtes Angebot und planen wir immer für eine Auslastung von 65 Prozent."

Personalplanung

Strategisches Ziel ist obendrein, dass Personal nach diesem definierten Angebot geholt und ausgebildet wird. "Deswegen wissen wir auch heute schon, dass wir dieses Jahr 1500 Leute einstellen müssen und in sieben Jahren 7000, weil wir angebotsorientiert unsere Planung erstellen." Auch die Situation am Arbeitsmarkt und anstehende Pensionierungen werden dabei berücksichtigt.

Für jede Linie gibt es in ihrem Referat eine Beschreibung: Die Fahrzeit von A nach B ist fix, die Intervalle sind sekundengenau dargestellt. In der Realität ergeben sich dabei natürlich Abweichungen durch die Dauer der Fahrgastwechsel. "Und dann sind wir natürlich nicht die einzigen Verkehrsteilnehmer an der Oberfläche", ergänzt Kollege Michael Neumann, der als Quereinsteiger Politikwissenschaften studiert und zuvor in der Fahr- und Dienstplanung gearbeitet hat.

Gerade bei Bussen ginge es oft um Ampelphasen. "Wenn eine Grünphase versäumt wird, hat man schnell fünf Minuten Rückstand. Also muss das Fahrpersonal zunächst an die Personen im Bus denken, die weiterkommen wollen, und an die an der nächsten Haltestelle, die auf den Bus warten, sprich: an die Mehrzahl." Was dann aber beim Einzelnen ein Frusterlebnis erzeugen könne.

Anzeigentafel der Linie O.
Würden die Öffis ihre Intervalle nicht einhalten, könnten die Wiener Linien ihren Vertrag mit der Stadt nicht einhalten.
© Christian Fischer

Laufend, mindestens aber dreimal pro Jahr (zu Schulbeginn, nach Weihnachten und nach Ostern), werden die Intervalle der Durchfahrtszeiten evaluiert und gegebenenfalls angepasst, wobei sie drei Säulen definieren: das generelle Angebot mit den Saisonplänen, den "Eventverkehr" sowie die Abweichungen wegen Baustellen. Mit Kammern und Interessensverbänden sind sie dafür im ständigen Austausch, weil sie bei der Planung auch von deren Informationen abhängig sind. "Wenn beispielsweise irgendwo eine Produktionsfirma die Schichtzeiten ändert, versuchen wir eine zusätzliche Fahrt anzubieten oder eine zu verschieben."

Mittels Fahrgastzählungen wird der Kundenstrom laufend evaluiert. Dafür sind in den (neu angeschafften) Fahrzeugen entsprechende Zählgeräte installiert, die am Ende des Tages in der Garage ausgelesen und in der Folge ausgewertet werden. "Wesentlich ist dabei der Durchschnittswert. Wir können leider keine Rücksicht darauf nehmen, dass irgendwann einmal eine ganze Volksschule in einem Bus, in den 67 Leute hineinpassen, zum Schwimmen fahren möchte."

Subjetive Wahrnehmung

Hingegen können sie die Intervalle nach der durchschnittlichen Nachfrage gestalten oder die im Fachjargon sogenannte Gefäßgröße der Fahrzeuge anpassen. Das Empfinden, wann ein Fahrzeug zu voll ist, hätte sich während Corona deutlich verschoben, sagt Huber. Auch hier würden sich die subjektiven Wahrnehmungen mancher Fahrgäste ("Das hält ja keiner aus!") nicht mit den Evaluierungen der Fahrgastzahlen decken. Und überhaupt "die subjektive Wahrnehmung": Noch heute gebe es Fahrgäste, die darauf schwören, dass die Wiener Linien am 1. Mai erst ab 14 Uhr fahren würden. Dabei tun sie das schon seit 1999 nicht mehr.

Mit ihrer Software, die sie seit den 1990er-Jahren verwenden, Tabellen und Schauen, stimmen sie die verschiedenen Linien aufeinander ab und "hängen" das Intervall der einen Linie auf das einer querenden. Das ist Fachvokabular, welches teilweise seit über hundert Jahren verwendet wird.

Alle Intervall- und anschlussrelevanten Themen des Kundendienstes kommen ungefiltert zu ihnen. "Die größte Herausforderung", sagt Huber, der aus Kapfenberg stammt und sich schon als Kind für die dortigen Oberleitungsbusse begeisterte, "ist jeden Tag das eine morgendliche Großereignis: Der einheitliche Schulbeginn um acht Uhr. Wir müssen Personal und Fahrzeuge vorhalten für zwei zusätzliche Fahrten in zwanzig Minuten – davor und danach stehen diese wieder still."

Eine Grafik über die Intervalle.
Michael Neumann und Martin Huber arbeiten etwa mit Grafiken um die Intervalle abzugleichen.
© Christian Fischer

Eine Staffelung des Schulbeginns würde einen großen Unterschied ausmachen. Im 22. Bezirk in der Polgarstraße, wo innerhalb weniger Meter zwei große Schulen liegen, hätte das bereits funktioniert: "Da hat die BHAK den Unterrichtsbeginn auf 8.30 Uhr verlegt."

Den Herausforderungen des "Eventverkehrs" stellen sich beide immer noch gerne selbst. So war Huber fix den Spielen der Wiener Austria zugeteilt und hat über 100 Matches der Favoritner miterlebt, als die U1 noch nicht bis zum Alten Landgut fuhr und sie mit der Linie 67 "verstärken" mussten. Zusätzlich zu den in Gelb oder Orange gekleideten Revisoren sind sie dann in Zivil als "Besteller" vor Ort, die in Absprache mit Veranstaltern und Polizei Entscheidungen über sogenannte außerplanmäßige Verstärkungen treffen. Dabei warten die Fahrer in ihren Garnituren in einer Schleife und werden eingesetzt, wenn sie gebraucht werden.

Fußballspiele laufen routiniert ab, "auch wenn man manchmal nicht weiß, wann sie aus sind – gibt es eine Verlängerung? Ein Elfmeterschießen?" Und bei Veranstaltungen auf der Donauinsel bewähre sich mittlerweile das tatsächlich so genannte Wiener Konzept: Da werden die Stationen Handelskai und Neue Donau gegengleich halbiert, sodass in der ersten Station der vordere Teil befüllt wird und in der zweiten der hintere. Sonst hätte in Letzterer keiner mehr eine Chance, hineinzukommen.

Änderung am Zentralfriedhof

Für Veranstaltungen in der Wiener Stadthalle werden bedarfsorientiert die Straßenbahnlinie 6 und die U-Bahn-Linie 6 verstärkt. Schon im Vorfeld werden dabei Gespräche über den Vorverkauf geführt. "Ab einer gewissen Zahl verkaufter Karten ist klar, dass wir zusätzlich Personal und Fahrzeuge bestellen."

Sehr viele Karten verkaufte Taylor Swift für ihre Konzerte heuer im Happel-Stadion, was Huber aus einem anderen Grund Sorgen bereitet: "Das wird fad", lacht er, "wenn man heraußen dauernd das Gleiche hört, während man auf das Ende des Konzertes wartet."

Und abschließend noch etwas Kurioses: "Zu Allerheiligen wird das Fahrgastaufkommen zu den Friedhöfen immer schwächer, da werden wir an die glorreichen Zeiten nicht mehr herankommen", scherzt Huber. 1913 hatten sie 22 Linien rund um den Zentralfriedhof im Einsatz mit allen verfügbaren Garnituren, um alle zu ihren lieben Verstorbenen bringen zu können.

Heute verstärken sie zwar noch ein paar Linien, aber erst vergangenes Jahr haben sie das Intervall der Linie 71 rund um den Zentralfriedhof wieder von drei Minuten 45 Sekunden auf fünf Minuten hinaufgesetzt. Den Toten wird das alles egal sein. Auch dass Allerheiligen bei den Wiener Linien unter "Eventverkehr" fällt. (Manfred Rebhandl, 12.2.2024)