Soziologie Boomer Bude Erwerbsverlauf
Heinz Bude hebt das soziale Geschick der Boomer ausdrücklich hervor – und rühmt ihre Beobachtungsgabe.
Dawin Meckel

Allmählich heißt es, Abschied von den Boomern zu nehmen. In seinem gleichnamigen Buch nimmt der Berliner Soziologe Heinz Bude geburtenstarke Jahrgänge von 1955 bis 1970 nicht beschönigend, aber verständnisvoll in den Blick. Zwischen Einbauküchen und Schmelzkäseecken entsteht das Porträt einer anpassungsfähigen Generation der notorisch Vielen. An Renommee hätten die Boomer zuletzt wieder gewonnen, sagt Bude.

STANDARD: Der Generation der Boomer wird die Verschwendung von Ressourcen häufig zum Vorwurf gemacht. Auch rein zahlenmäßig werden sie mitunter als Bedrohung unserer Gesellschaft beschrieben. Existiert da ein Sündenbocksyndrom?

Bude: Dieses Thema ist vom Tisch. Noch vor fünf Jahren gab es diese Anpflaum-Formel: "He, Boomer! Gebt mal ein bisschen Ruhe." Die Demografie hat das weggebracht. Das verhält sich in Österreich wohl nicht anders als in Deutschland: Wenn die quantitativ so mächtige Generation der Boomer beginnt, sich nach und nach aus allen Arbeitsmärkten zu verabschieden, stehen wir volkswirtschaftlich ziemlich dumm da. In der Öffentlichkeit herrscht die Tendenz vor, jetzt etwas pfleglicher mit den Boomern umzugehen. Ich würde es als eine Umstellung von Anpflaumen auf Pfleglichkeit beschreiben.

STANDARD: Es geht um bitter benötigte menschliche Ressourcen? Die sonst verschwänden?

Bude: Es dreht sich um Kompetenz. In diesen Menschen verkörpern sich Kompetenzen, die man schwer entbehren kann. Denken Sie nur an das Gesundheitssystem. Sind die Boomer-Ärzte, alle diejenigen, die den Pflegebereich wuppen, erst einmal raus, wird es finster. Nicht anders im Handwerk. Dort heißt es auch, die sollen lieber noch zehn weitere Jahre arbeiten. Fakt ist die gesteigerte Lebenserwartung der Boomer.

STANDARD: Das befeuert auch die Debatten über Zuverdienst im Pensionsalter.

Bude: Genau.

STANDARD: In Ihrem Buch skizzieren Sie das Bild einer ungemein wandlungsfähigen Generation. Dem zufolge zeichnen sich Boomer durch allseitige Verhaltenselastizität aus. Sind Boomer stärker "geprägt" geworden, anstatt selbst zu "prägen"?

Bude: Es gibt bei ihnen eine gewisse Zögerlichkeit im Denken. Die geht aus einer permanenten Beobachtersituation hervor. Sie beobachten die Generation vor ihnen. Sie treffen auf eine Gesellschaft, die – wenigstens in Deutschland – auf vielen Ebenen gleichzeitig kommuniziert. Es existiert eine Art "Vorderbühne" und eine "Hinterbühne". Sie kapieren, was auf dieser Hinterbühne gespielt wird, sagen aber nicht viel dazu. Sie nehmen sie lediglich zur Kenntnis. Das bildet ein zögerliches Element, das sich lebenspraktisch mit Experimenten paart.

STANDARD: Sie meinen Anpassungsfähigkeit?

Bude: Die Boomer sind diejenige Generation, die die meisten irregulären Erwerbsverläufe aufweist. Der lebenspraktische Experimentalismus bildet gemeinsam mit dem kognitiven Zögern ihr Hauptmerkmal. Man fühlt sich Bedingungen unterworfen und von diesen geprägt, ohne frei über sie bestimmen zu können.

STANDARD: In einem Seitenstrang Ihrer Generationenerzählung machen Sie deutlich, dass die Boomer einen wachen Sinn für Ausdrucksfragen besitzen, im Hinblick auf die Vergangenheit, aber auch künstlerisch. Bilden die Boomer die letzte Generation der Kunstfrommen?

Bude: Das könnte in der Tat so sein. Die zentrale Erkenntnis besteht für sie darin, dass die Faschismen dieser Welt sich nicht von den Interessen herleiten, sondern vielmehr von Wünschen. Sie haben als Erste die Wünsche in den Interessen erkannt – und wurden davon durchaus überrascht und irritiert. Was soll man jedoch mit den Wünschen in ihrer Widersprüchlichkeit anfangen? Sie sind politisch nicht leicht regulierbar. Für die Boomer war das Ästhetische letztlich interessanter als das Politische. Jetzt sind sie vom Politischen eingeholt worden, erkennen dieses Faktum aber auch an.

STANDARD: Boomer sind erstaunlich wenig theoriegeleitet?

Bude: Ganz sicher. Zu Fragen nach Substanz und Essenz haben sie keinen Anlass. Darin besteht auch die Lektion der 1990er-Jahre. Boomer erkennen und betonen die Wichtigkeit der Individualität, formen daraus jedoch keinen massiven Begriff des Individuums. Alles Individuelle wird von ihnen experimentell verarbeitet.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch von "vergangener Zukunft". Meint das Dinge, die von den Boomern unerledigt liegengeblieben sind?

Bude: Das stimmt, meint aber stärker noch die 1968er-Generation. Die hat sich, wenn Sie so wollen, in die "Zukünfte" der Weimarer Republik vertieft. Die früher Alten besaßen ein generationsspezifisches Versagensbewusstsein gegenüber Weimar. Das griffen die 68er auf, um es als vergangene Zukunft noch einmal für sich durchzuspielen. Das sahen die Boomer und haben es nicht nachgemacht. Man kann der Auffassung sein, dass darin etwas Unabgegoltenes liegt. Aber Boomer sind keine Melancholiker.

STANDARD: Boomer dominierten die BRD wie die DDR. Überwiegt die Zahl der Gemeinsamkeiten, oder gab es vornehmlich Trennendes?

Bude: Ich habe versucht, die Basis von etwas Drittem zu finden. Etwas, das ein Gespräch zwischen beiden Generationsteilen ermöglicht. Es ist der Rückgriff auf die gemeinsamen Eltern, der ein Gespräch eröffnen hilft. Geführt wird es über das wechselseitige Unverständnis. "Boomer Ost"? Die erste Reaktion der Ostdeutschen besteht in Unverständnis. Ein solches äußern die Westdeutschen, wenn sie die Unzufriedenheit ihrer Mitbürger aus den neuen Bundesländern beklagen.

STANDARD: Sie verweisen auf typische "Boomer"-Soziologen wie Dirk Baecker oder Armin Nassehi. Die würden kleinteilig denken, über Aushandlungsprozesse, über lauter Details. Gibt es Anzeichen für eine sozialwissenschaftliche Wende?

Bude: Für den klassischen Boomer-Soziologen, die klassische Boomer-Soziologin ist Erving Goffman wichtiger als Max Weber. Sie setzen mit dem ganzen Gewicht ihres Denkens bei einer Soziologie der 1950er-Jahre an, nicht der der 1910er-Jahre. Sie überspringen damit eine ganze soziologische Welt. Es wäre die der Klassiker gewesen. Sie behaupten, in einer anderen Gesellschaft zu leben. Der Begriff der "Rolle" spielt bei Max Weber und Konsorten kaum eine Rolle. Für die Boomer ist die Partialisierung des Individuums ausschlaggebend. Es windet sich durch alle einzelnen Momente hindurch, um am Ende mit Goffman ausrufen zu können: Die ganze Welt ist keine Bühne! Wir befinden uns alle auf einer Bühne. Aber am Ende ist die Welt keine Bühne.

STANDARD: Was wiederum den gesunden Wirklichkeitssinn der Boomer erweist.

Bude: Gesellschaft ist für sie nicht mehr von zentralen Werten und Weltbezügen her zu denken. Das einzige Vergemeinschaftungsverhältnis, das es noch gab, wurde bei den Boomern durch den Fernseher hergestellt. Eine Sendung wie Einer wird gewinnen mit Hans-Joachim Kulenkampff hatte eine Einschaltquote von 90 Prozent. Oder der einzige Magiker in Nachkriegsdeutschland trat auf: Willy Brandt. (Ronald Pohl, 12.2.2024)