Die Chefin des HG Wien, Maria Wittmann-Tiwald, in ihrem Büro im Justiztower in Wien-Mitte
Mit ihrem langen Streit über die Besetzung des Bundesverwaltungsgerichts hat die Politik dem Image der Justiz geschadet, sagt die Präsidentin des Handelsgerichts Wien, Maria Wittmann-Tiwald.
Regine Hendrich

Wer zur Präsidentin des Handelsgerichts Wien in den Justiztower im dritten Bezirk will, muss hoch hinaus. Ihr Büro ist im 24. Stock – und bietet einen Traumblick über Wien. Ein Gespräch über Insolvenzen, internationale Verfahren in Wien und Streithanseln.

STANDARD: Das Handelsgericht Wien ist viel in den Medien: Sie führen das Signa-Insolvenzverfahren. Es geht um Milliardenschulden und hunderte Firmen. Wie bewältigen Sie das?

Wittmann-Tiwald: Die Hauptarbeit liegt bei den Insolvenzverwalterinnen und -verwaltern, aber es ist auch für uns eine Herausforderung. Wir haben aber sehr gute, erfahrene Richterinnen und Richter. Derzeit ist es bewältigbar, weil es trotz gigantischer Schulden vergleichsweise wenige Gläubiger gibt. Es sind zwar mehrere Hundert, aber bei anderen Großkonkursen wie Alpine Bau waren es mehr als 10.000. Was uns derzeit mehr plagt, ist die Vielzahl an Insolvenzen, sie sind im Jänner rasant angestiegen.

STANDARD: Ist das schon eine Folge der Signa-Insolvenz?

Wittmann: Ja, es sind auch Geschäftspartner von Signa dabei. Am stärksten erwischt es derzeit die Bau- und Immobilienbranche, Handel und Gastronomie.

STANDARD: Was, wenn das Signa-Sanierungsverfahren nicht klappt und dann der Konkurs folgt?

Wittmann: Dann ist damit zu rechnen, dass auch die vielen Tochtergesellschaften insolvent werden. Das Verfahren ist jetzt schon sehr aufwendig, ich bin auch ständig mit dem Oberlandesgericht und dem Ministerium in Kontakt: Damit wir, wenn es wirklich explodiert, Unterstützung bekommen. Dann brauchen wir mehr Richter und Supportpersonal.

STANDARD: Sie sind seit 1989 Richterin, leiten das Handelsgericht Wien seit 2015. Wundert Sie noch, was in und mit Unternehmen passieren kann? Vom Immobilienriesen zur größten Pleite der Zweiten Republik …

Wittmann: Ja, ich wundere mich mitunter. Man muss sich das auch wirtschaftspolitisch überlegen: Banken unterzieht man Stresstests, aber was ist mit anderen Riesenunternehmen? Wenn die kollabieren, ist der Schaden auch sehr groß, bei Gläubigern, Investoren, Mitarbeitern, Lieferanten – daraus muss man Lehren ziehen.

STANDARD: Etwa die, dass Firmen ihre Bilanzen rechtzeitig und vollständig veröffentlichen? Signa tat es jahrelang nicht, laut KSV legt jedes achte Unternehmen Bilanzen nicht vollständig oder zu spät. Die Firmen zahlen lieber Strafen, bevor sie den gesetzlichen Veröffentlichungspflichten nachkommen.

Wittmann: Es wäre gut gewesen, wenn wir alle schon früher draufgekommen wären, da muss man natürlich nachjustieren. Wir am Handelsgericht Wien bekommen im Jahr ungefähr 65.750 Jahresabschlüsse, österreichweit sind es 214.000. Die Gerichte warten meist rund zwei Wochen geschlossen, und wenn die Bilanz dann nicht da ist, schicken sie die Zwangsstrafen aus. Die Offenlegungspflicht gibt es seit 1996, seit 2010 gibt es die sofort fällige Zwangsstrafe, ohne vorherige Zahlungsaufforderung. Diese Verschärfung brachte einen großen Schub, davor wurden nämlich pro Jahr 60.000 Jahresabschlüsse nicht eingereicht.

STANDARD: Sollen die Strafen also drastisch erhöht werden?

Wittmann: Ja, bei mehrfachen Verstößen ist das notwendig; man könnte die Strafen dann an den Jahresumsatz binden. Ziel muss es auf jeden Fall sein, dass die Jahresabschlüsse gelegt werden, denn das ist für die Transparenz und den Gläubigerschutz unablässig. Es gibt ja auch verschiedene Motive, warum Jahresabschlüsse nicht gelegt werden: Die einen wollen ihre Zahlen grundsätzlich verheimlichen, die anderen wollen sie vor dem Blick der Konkurrenz schützen.

Anwälte und Anwältinnen im Wiener Handelsgericht, vor einem Verhandlungssaal
Die Signa-Pleite bindet viel Personal – hier Anwälte bei der ersten Gläubigerversammlung der Signa Prime.
APA/Helmut Fohringer

STANDARD: Sie wollen Verfahren künftig auch in englischer Sprache führen. Was bringt das?

Wittmann: Wir haben jetzt schon internationale, in Englisch verhandelte Streitfälle, wenn die betroffenen Unternehmen den Gerichtsstandort Wien vereinbaren. Die tun das, weil die österreichische Justiz sehr unabhängig und das Personal gut ausgebildet ist. Für englischsprachige Verfahren haben wir Initiatorinnen bereits einen Gesetzesentwurf erarbeitet, demnach müssten sich die Parteien spätestens bei der Klagebeantwortung freiwillig darauf einigen. Zu Beginn des Pilotprojekts sollte es drei Englisch-Abteilungen im Haus geben. Deutschland und die Schweiz haben die Möglichkeit zu englischsprachigen Verfahren schon eröffnet, und ich habe wirklich große Sorge, dass wir abgehängt werden. Es geht da nicht nur um die Handelsgerichtsbarkeit, sondern um den Rechtsstandort Österreich.

STANDARD: Wo liegt Ihr Gesetzesentwurf gerade?

Wittmann: Den haben wir vielen Stellen vorgelegt, alle finden ihn gut – aber es geschieht nichts.

STANDARD: Der Rechtsstandort Österreich ist aber teuer, Prozesse zu führen ist wegen der hohen Gerichtsgebühren, die sich am Streitwert bemessen, kostspielig. Ist das nicht auch ein Wettbewerbsnachteil für die Justiz?

Wittmann: Ja, die Pauschalgebühren sind im Europavergleich sehr hoch. Man sollte sie deckeln, bei einem Streitwert von 30 Millionen Euro, wie das in Deutschland der Fall ist. Das Justizministerium steht dem offen gegenüber, das Finanzministerium aber nicht. Im Oktober 2021 waren bei uns 13 Verfahren mit mehr als 30 Millionen Euro Streitwert anhängig, Ende des Vorjahres waren es nur noch sechs. Das heißt, die Parteien wandern in billigere Jurisdiktionen ab, wie uns auch Anwälte berichten – und so verlieren wir die Einnahmen ganz.

STANDARD: Sie plädieren ja auch für eine Art Europäisierung des Firmenbuchs. Wie soll die ausschauen?

Wittmann: Österreichische Firmenbuch-Auszüge können auch auf Englisch abgefragt werden, aber mittelfristig sollen auch Anträge ans Firmenbuch auf Englisch verfasst sein können. Innerhalb der EU sollten über das E-Justice Portal nicht nur wenige Grunddaten wie Name und Firmenadresse, sondern auch Auszüge und Urkunden direkt erhältlich sein.

STANDARD: Der Arbeitsanfall am Handelsgericht Wien erfolgt in Wellen: mehr als ein Jahrzehnt waren hunderte MEL-Anlegerprozesse anhängig, dann die im Fall Alpine Bau. Alles abgearbeitet?

Wittmann: Die MEL-Verfahren haben wir de facto abgearbeitet, bei der Alpine sind wir dabei. Dafür ist eine Sammelklage von mehr als 1500 Klägern zur Abgascausa VW anhängig. Diese Zahl können wir bewältigen; in Deutschland, wo es Sammelklagen mit 100.000 Klägern gibt, braucht es schon IT-Verstärkung und den Einsatz von KI.

STANDARD: Wie nutzen Sie die KI?

Wittmann: Zum Beispiel bei der Anonymisierung von Entscheidungen und für die Spracherkennung. In der Strafjustiz nützt man sie fürs Durchsuchen von Datenmaterial. Unser Ziel ist es, von der KI unterstützte Assistenztools einsetzen zu können, mit denen wir etwa Schriftsätze analysieren und zusammenfassen können. Die KI würde da nicht die Lesetätigkeit ersetzen, aber die Zusammenfassung übernehmen, Schriftsätze haben ja nicht selten an die 100 Seiten.

STANDARD: Könnte man den Anwälten nicht gleich sagen, sie sollen weniger schreiben?

Wittmann: Da sind die Anwälte dagegen. Spinnt man das weiter, wird es interessant: Anwälte benutzen die KI, um Schriftsätze zu verfassen, wir benutzen KI, um sie zu kürzen. Vielleicht kommt man so auf einen Kompromiss. Gut einsetzen ließe sich die KI auch bei Massenverfahren, wenn es schon Musterurteile gibt, die auf andere Fälle angepasst werden müssen. Die KI könnte auch Jahresberichte auf ihre Vollständigkeit prüfen. Mit der KI könnte man viel Zeit und Ressourcen sparen.

STANDARD: Urteile von der KI?

Wittmann: Nein. Die KI soll Richter unterstützen, sie ersetzt nicht den Richter und darf nicht urteilen. Aber die Justiz muss auf der Höhe der Zeit und der Technik sein.

Ein Messebesucher geht an einem Leuchtdisplay vorbei
"Künstliche Intelligenz soll Richter unterstützen, sie ersetzt den Richter nicht und darf nicht urteilen", sagt Wittmann-Tiwald.
APA/dpa/Peter Steffen

STANDARD: Sind österreichische Unternehmer eigentlich große Streithanseln? Verändert sich die Streitkultur an den Gerichten?

Wittmann: Nein, Streithanseln sind sie nicht, die Streitkultur an sich hat sich nicht wesentlich geändert. Aber es geht professioneller zu, sowohl aufseiten der Anwälte als auch aufseiten der Richter. Das gemütliche Streiten ist vorbei, man arbeitet viel strukturierter und effizienter.

STANDARD: Manche Prozesse dauern trotzdem viele Jahre. Seit wann läuft das längste Verfahren hier?

Wittmann: Seit 2003. Ein Bauprozess. Kein Ende in Sicht. Aber das liegt nicht am Gericht, sondern an den Parteien. Mein grundsätzliches Ziel wäre, dass wir so arbeiten können, dass die Fristen zwischen den Tagsatzungen drei Monate betragen, jetzt sind es mitunter sechs Monate.

STANDARD: Die Spitze des Bundesverwaltungsgerichts war rund 14 Monate unbesetzt, jetzt hat die Regierung den Drittgereihten zum Präsidenten gemacht. Wie sehen Sie das?

Wittmann: Das war unverantwortlich. Das Bundesverwaltungsgericht ist das größte Gericht Österreichs, sehr bitter war zudem, dass es bis zur Besetzung wegen eines parteipolitischen Streits so lange gedauert hat. Die Politik hat damit den Eindruck vermittelt, sie könnte auf die Rechtsprechung Einfluss nehmen – denn sonst wäre ihr die Besetzung ja nicht so wichtig gewesen. Die Politik kann aber keinen Einfluss nehmen – und wir fürchten uns nicht vor der Politik. (Renate Graber, 12.2.2024)