Poesie Xaver Bayer Österreichischer Buchpreis
Quasi mit anderen Augen: Xaver Bayer (46) schreibt nunmehr auch Poesie.
Robert Beenzer

Unzählige Male schon hat man den Wiener Autor Xaver Bayer zum Flaneur erklärt. Solche Spaziergänger wie der Gewinner des Österreichischen Buchpreises 2020 sind versierte Agenten des Übergangs. Man begegnet ihnen seit den Zeiten Charles Baudelaires vornehmlich in Zonen verblassenden Wohlstands. Dort, wo ganze Weltgegenden wie erstarrt daliegen – oder sich in Erwartung ausstehender Ereignisse nach einem blassen, farblos gebliebenen Himmel strecken.

Andere Landschaftsausschnitte ducken sich in dem Bayer-Band Poesie wie unter dem unsichtbaren Druck zerstörerischer Mächte zusammen. Nur die Balkone eines "fast fertigen Hochhauses" stehen dann offen wie "herausgezogene Schubladen". Das Klackern von Schuhen tritt an die Stelle von Industriegehämmer, oder ganze Wohnviertel verschwinden im Inneren einer Glaskugel. Nichts Gröberes oder Verdrießliches passiert in Xaver Bayers Prosagedichten. Zugleich scheinen keine größeren Stoffwechselprozesse denkbar als in diesem späten, kaum hundert Seiten umfassenden Lyrikdebüt.

Angebissene Äpfel bleiben in den knapp seitenlangen Protokollen auf Tischen liegend zurück, und man meint, der Herrgott selbst werde seine Schöpfung sogleich mit dem Ausdruck größten Bedauerns wieder zurücknehmen.

Bayer besitzt die rare Fähigkeit, die Tatsachenwelt allein mit der Macht seiner Beobachtungsgabe von Grund auf zu verändern. Die Kreise, die eine Fliege um das Ticken einer Küchenuhr zieht, setzen eine jeweils neue Zeitrechnung in Gang: "Spätestens jetzt ahnt man, dass man etwas verloren hat, man weiß nur nicht, was."

Unscheinbarer Transit

Man taucht hinab in die Tinte der Nacht, die einen "kielholen lässt". Man entdeckt unscheinbarste Transitorte – Grenzen, die zwischen Welt und Wahrnehmung verlaufen und das Verhältnis beider ins Gegenteil verkehren. Erst dann ist man reif für den Eintritt in ein "Wunderland", in dem man, nach "Abgabe" seines Namens, kleinere Aufgaben bewältigen darf: das "Wasser löschen", das "Licht verbrennen". Der Rückweg führt vorbei am Tisch des Zollamtsbüros: auf ihm ein Zettel, darauf steht der eingangs abgegebene Name.

Man muss tief hinabsteigen, vielleicht sogar in die Welt der Frühromantik, um Xaver Bayers Verwandlungskünste erschöpfend zu charakterisieren. Mit der Ausdehnung seiner Erzählkünste ins Reich der Poesie ist dem Autor präziser Prosa ein triumphaler Übertritt gelungen: dorthin, wo winzige Insekten "Notate in die Luft kritzeln". "Im Leeren erstarrt, hängt die Welt an sich selbst." Der Autor nennt dergleichen das "Globusgefühl". Und es spricht für ihn, dass man keinen Augenblick lang an den das Himmelsgewölbe stemmenden Atlas denken muss.

In den Gegenden, durch die Bayer flaniert, gelangen die Gegenstände mit dem, was sie bedeuten, wundersam in Deckung. Oder, um es nochmals anders zu sagen: "Keiner ist der Andere und jeder er selbst." Der junge Peter Handke nannte eine solche Sphäre "die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt". In einem solchen Zwischenraum haust jetzt Bayer. Das ganze Glück einer solchen Existenz fasst er wie folgt zusammen: "Und dann sagt hier drinnen zufällig ein paar Atemzüge lang niemand ein Wort." (Ronald Pohl, 14.2.2024)