Regisseur Jacques Doillon und Schauspielerin Judith Godrèche
Regisseur Jacques Doillon und Schauspielerin Judith Godrèche.
AFP/YOHAN BONNET/LOU BENOIST

Heute staunt man darüber. Doch Jacques Doillon, einer der angesehensten Regisseure Frankreichs, hatte seine sexuellen Vorlieben gar nie verhehlt. Nicht einmal in Filmtiteln wie La fille de quinze ans (das Mädchen von 15 Jahren). In dem Streifen von 1989 ging es um eine Dreierbeziehung mit einem Gleichaltrigen und dessen Vater. Hauptdarstellerin war Judith Godrèche, damals ein Mädchen "im passenden Alter".

Heute 51, hat Godrèche gegen den bekannten Regisseur Klage wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen eingereicht. Statt mit ihr zu drehen, habe Doillon ihr "die Finger unter den Slip gezwängt" und sich "in seinen Jeans an ihr gerieben", erzählte sie in Interview. Härtere Fakten reservierte sie der Polizei.

Totale Kontrolle 

Godrèche erhielt vergangene Woche Unterstützung von einer anderen Topschauspielerin, Anna Mouglalis. Sie erzählte der Zeitung Le Monde, wie sie Doillon auch einmal an die Wand gedrückt habe, um sie gegen ihren Willen zu küssen. Isild Le Besco berichtete, wie sie 2001 eine Filmrolle in einem Doillon-Streifen verloren habe, weil sie sich geweigert habe, mit ihm zu schlafen.

Noch enger – und erdrückender – war Godrèches Beziehung zum Filmemacher Benoît Jacquot, unter anderem bekannt für einen Spielfilm über den Marquis de Sade. Sie war 14, er 39; sie wollte Schauspielerin werden, er übte über sie eine totale Kontrolle aus. Auch ihn hat die Schauspielerin wegen sexueller Gewalt geklagt.

Strafverfahren eröffnet

Die Staatsanwaltschaft hat gegen Doillon (79) und Jacquot (77) Strafverfahren eröffnet. Beide bestreiten die Anschuldigungen und behaupten, ihre Sexgespielinnen hätten zu allem eingewilligt. Allem? Noch 2015, zwei Jahre vor dem MeToo-Skandal, hatte Jacquot in aller Offenheit erklärt: "Meine Arbeit als Regisseur besteht darin, die Schauspielerin dazu zu bringen, dass sie eine Schwelle überschreitet. Am besten ist es immer noch, mit ihr im gleichen Bett zu sein."

Mit Godrèche verbinde ihn ein "Pakt", erzählte er weiter: "Ich gebe ihr den Film, sie gibt sich mir völlig hin." Und damit er sicher war, verstanden zu werden, präzisierte er: "Das ist in jeder Beziehung zu verstehen."

Französische Freizügigkeit

Diese Passagen stammen aus Interviews mit den wichtigsten Pariser Szeneblättern, mit Libération und Inrocks. Deren Filmkritiker feiern von jeher das libertäre Autorenkino, das die Tradition der französischen Freizügigkeit und – wie man altmodisch sagte – der Galanterie hochhält. Über Missbrauch berichteten sie bis vor kurzem nie. Und schon gar nicht, wenn Stars wie Doillon oder Jacquot die Urheber waren.

Oder Abdellatif Kechiche, der 2013 die Goldene Palme für La vie d’Adèle erhalten hatte: Er verlangte von seinen Schauspielern, dass sie die Sexszenen nicht nur spielten, sondern wirklich "erlebten". Und selbst wenn der vom Regisseur verlangte Cunnilingus 13 Minuten lang dauerte. In den USA werden solche Sequenzen heute von meist weiblichen "Intimitätskoordinatorin nen" überwacht. Nicht im freiheitlichen bis libertären Frankreich.

Alibi für Sexraub

Godrèches Gerichtsklagen senden nun aber eine regelrechte Schockwelle durch die französische Filmbranche. Nicht einmal die Vergewaltigungsvorwürfe an den Schauspieler Gérard Depardieu im vergangenen Jahr hatten sie so stark aufgebracht. "Wo endet die Freizügigkeit, wo beginnt der Missbrauch?", fragen nun Filmkritiker. Eine von ihnen, Laure Beaudonnet, hat eine unangenehme Antwort: "Die Allmacht gewisser Nachfahren der Nouvelle Vague in den Drehstudios erscheint wie ein Alibi für kaum verhohlenen sexuellen Raub."

Wobei die Raubzüge ganz offensichtlich weit über die Drehorte, sogar über das Kinomilieu hinausgehen. Weitere Vertreter der Pariser Kultur- und Medienszene sind seit längerem Ziel von Gerichtsklagen – neben Depardieu etwa der ehemalige TV-Anchorman Patrick Poivre d’Arvor oder der Schriftsteller Gabriel Matzneff. Neu dazugestoßen sind der Komiker Nicolas Bedos, der TV-Präsentator Sébastien Cauet oder der in Frankreich bekannte Theaterschauspieler Philippe Caubère, der wegen Vergewaltigung dreier Minderjähriger belangt wird. Ihr gemeinsamer Nenner? Dass sie mächtige Männer sind, die in ihren blutjungen Missbrauchsopfern Musen sehen?

Bekannter Psychoanalytiker

Aufschlussreich ist auch der Fall des in Frankreich sehr bekannten Psychoanalytikers Gérard Miller. Der 75-Jährige hatte 2011 den Dokumentarfilm namens Die List des Begehrens: das Verbot veröffentlicht. Nachdem sich im Jänner Gerüchte um Sexattacken Millers mehrten, warfen ihm mehr als zwei Dutzend Frauen vor, sich zwischen 1993 und 2020 an ihnen bei sogenannten Hypnose-Séancen vergangen zu haben. Inzwischen sind fast dreißig Opferaussagen verbrieft. (Stefan Brändle aus Paris, 15.2.2024)