Wenn der mysteriöse Banksy eine Wand als Unterlage benutzt, kommt durchaus Kunst heraus. Aufgesprayte "Tags" erfüllen diesen Anspruch eher nur in Ausnahmefällen.
EPA / Michael Buholzer

Wien – Auch wenn künstlerisches Genie mitunter verkannt wird – man denke an Vincent van Gogh oder die Marketingabteilung von Columbia Records, denen Bob Dylans "Like a Rolling Stone" mit über sechs Minuten zu lang dauerte –, sind es manchmal die Urheber selbst, die nüchtern und kritisch ihr eigenes Schaffen reflektieren. Herr M. ist so ein Fall, wie sich bei seinem Verfahren vor Richterin Martina Frank zeigt. Einer der Anklagepunkte gegen den Unbescholtenen sind nämlich "viele, viele Graffiti-Beschmierungen", wie die Richterin feststellt. "Wie steht das jetzt in Zusammenhang mit Ihrer Sucht?", fragt Frank den Arbeitslosen. "Ich habe einen Typen kennengelernt, der seit 20 Jahren in der Graffiti-Szene ist. Der hat gesagt: 'Das ist Kunst! Du kannst dich als Persönlichkeit ausdrücken!' Aber das ist keine Kunst, das sind nur Schmierereien", gesteht er zu, dass seine 27 angezeigten "Tags", also Namenszeichen, als "Kitkat" die öffentlichen Verkehrsmittel und Hauswände der Bundeshauptstadt optisch nur bedingt verbessert haben.

1.089,02 Euro wollen die Wiener Linien als Schadenersatz für die Reinigung von Waggons von dem Arbeitslosen. Auch ein im Grauen Haus sehr bekannter Sachverständiger hat sich als Privatbeteiligter angeschlossen: Er will 79,99 Euro für die Arbeitsmaterialien, die er in einem Baumarkt gekauft hat, um als offensichtlich fähiger Handwerker den Schaden an der Fassade selbst zu beheben. Der angeklagte Ukrainer verspricht, nach seiner Haftstrafe und seiner Drogentherapie für den Schaden aufzukommen.

Parfums und Sonnenbrillen gestohlen

Auch wenn seine Tags öffentlichkeitswirksamer gewesen sind, die höhere Strafe droht ihm wegen gewerbsmäßigen Diebstahls. Im September und im Jänner soll er mehrere Parfums und Sonnenbrillen gestohlen haben. "Das stimmt vollkommen. Ich habe das gestohlen und wollte damit meine Sucht finanzieren", bekennt sich M. umfassend geständig. Bei der Polizei gab er noch altruistischere Gründe an: Im September sagte er, er wolle Geld in die Ukraine schicken, um Verwandten, darunter seine Halbschwester, die Flucht zu ermöglichen. Im Jänner behauptete er, er wollte die Duftwässer verkaufen, um seiner Großmutter "ein schönes Geburtstagsgeschenk" machen zu können.

"Was haben Sie tatsächlich mit der Beute gemacht?", will Frank wissen. "Ich habe sie auf der Gumpendorfer Straße oder beim Margaretengürtel gegen Substitol getauscht oder verkauft, um mir Heroin leisten zu können", gibt er zu. "Es war mir zu der Zeit auch nicht bewusst, dass ich ein riesiges Drogenproblem habe. Ich habe das meiste gemacht, wenn ich gekracht habe. Wissen Sie, was das ist?", will der Angeklagte von der Richterin wissen. Frank weiß es, sie kennt den Ausdruck "krachen" für Entzugserscheinungen.

Belastende Lebensgeschichte

Dann schildert der Angeklagte seine Lebensgeschichte. Seine Mutter verlor er sehr früh, sein Vater kam aus der Ukraine nach Österreich und wurde Staatsbürger. Er selbst kam 2015 nach und zog zu seinem Vater. "Leider Gottes haben wir uns nicht verstanden", untertreibt er, tatsächlich sei der Vater derart gewalttätig gewesen, dass die Magistratsabteilung 11, die Wiener Kinder- und Jugendhilfe, die Obsorge übernahm und M. in eine Wohngemeinschaft kam. "In der Wohngemeinschaft habe ich dann erstmals Gras geraucht, dann haben wir Ecstasy und Speed genommen, die klassischen Einstiegsdrogen. 2018 kam dann Crystal Meth, ab 2020 habe ich im Lockdown erstmals Heroin probiert. Es hat mir sofort geschmeckt, es hat mir gefallen", erinnert er sich. Auch LSD und Beruhigungsmittel nahm er ein. "Ich versuchte, Sachen dadurch zu verdrängen wie die Schläge durch meinen Vater", liefert er als Erklärung.

Ende 2020, Anfang 2021 sei der Konsum mit seiner Ex-Freundin dann völlig außer Kontrolle geraten, M. brach seine Lehre ab. "Vor eineinhalb Jahren sind dann mehrere Verwandte, darunter eine Halbschwester, im Krieg gestorben", sagt der aus dem umkämpften Donezk-Gebiet stammende Angeklagte. Dieser Verlust habe ihn noch weiter aus der Bahn geworfen. Auf die er zurückwill, wie er verspricht. Er wolle "sein Leben auf die Reihe bekommen", erklärt er der Richterin. "Was sind Ihre Pläne?", will Frank wissen. "Ich will weg von den Drogen, will das Methadon, das ich jetzt in der Untersuchungshaft bekomme, schrittweise reduzieren und dann eine stationäre Therapie machen. Ich möchte weggesperrt werden", äußert er einen eher selten von Angeklagten zu hörenden Wunsch.

"Das ist nicht meine Welt"

In seinem Schlusswort stellt der geknickte 22-Jährige noch einmal klar: "Ich habe viele Fehler bisher begangen. Ich habe jetzt das Leben im Gefängnis erlebt und welche Leute hier sind – das ist nicht meine Welt", gibt er sich geläutert. Sobald er seine Suchterkrankung überwunden habe, würde er gerne seine Ausbildung fortsetzen. Er muss auf einen verständigen Arbeitgeber hoffen, denn die zwölf Monate teilbedingt, zu denen Frank ihn verurteilt, scheinen auch in einer Strafregisterbescheinigung auf. Vier Monate der Haft sind unbedingt, einen Monat hat er bereits in der Untersuchungshaft verbüßt. Die Richterin verfügt auch Bewährungshilfe und erteilt die Weisung zu einer stationären Drogentherapie, die kurze Gefängnisstrafe soll sicherstellen, dass er nahtlos aus der Zelle zu einem Therapieplatz kommt. (Michael Möseneder, Mitarbeit: Fabiana Kamath, 16.2.2024)