Reinhard Kaiser-Mühlecker.
Literat und Landwirt: Reinhard Kaiser-Mühlecker.
Peter Rigaud

Wer als Bauer so nah am Rauschen der Westautobahn lebt, der hätte es einfach, mit einem Traktor bis nach Wien zu fahren. 178 Kilometer sind es von Eberstalzell bis in die Bundeshauptstadt. Ähnliche Distanzen sind in den vergangenen Wochen viele europäische Bauern auf ihren Traktoren gefahren, von den Provinzen bis nach Berlin oder Paris, um dort zu protestieren. Reinhard Kaiser-Mühlecker ist am vergangenen Freitag bloß in ein Auto gestiegen, um für ein Interview die paar Kilometer bis nach Vorchdorf zu fahren. Zwei Stunden Gespräch mit ihm in der gemütlichen Gaststube im Schloss Hochhaus machen aber klar, dass auch hierzulande die Bauern Gründe genug hätten, um auf die Straße zu gehen.

Komplexes Thema

Der 41-Jährige ist derzeit ein beliebter Gesprächspartner. Zunächst einmal, weil er vor einigen Jahren von seinen Eltern eine Biolandwirtschaft übernommen hat und in vierter Generation einen Hof im oberösterreichischen Voralpenland führt. Und dann auch, weil er als Schriftsteller mit einer herausragenden Beobachtungsgabe, der immer wieder und auch in seinem letzten Roman Wilderer bäuerliche Lebenswelten beschrieben hat, den Blick aufs große Ganze versucht.

Fragt man ihn, mit welchen Gefühlen er die Proteste verfolgt, stellt sich heraus: Die Sache ist komplex – selbst für ihn. Die Bauern protestieren zum Beispiel in Deutschland, weil die Subventionen auf Agrardiesel gestrichen oder Kfz-Steuern auf Traktoren eingeführt wurden. Überall geht es auch um den Auflagendschungel der EU oder strengere Umweltbestimmungen, und nicht nur die Medien fragen sich: Wenn jetzt die EU auf die Proteste regiert, bleibt dann die Umwelt auf der Strecke? Obwohl Kaiser-Mühlecker eine unbedingte Solidarität mit den Landwirten empfindet, schon allein, weil er selbst einer ist, regt sich in ihm spätestens an dieser Stelle ein innerer Widerstand: Gegen strenge Umweltauflagen protestieren? Ausgerechnet das sollte man jetzt nicht mehr tun.

Versagen auf politischer Seite

Die Wut der Bauern und Bäuerinnen versteht er aber voll und ganz. Das Versagen ortet er eher auf politischer Seite. Aber der Reihe nach: Jahrzehntelang wurde den Bauern vorgegeben, es gehe um Leistung und Innovation. "Get big or get out", sei die Devise gewesen. Betriebe mussten immer weiterwachsen, kleine Strukturen waren nicht überlebensfähig. Tierwohl und Umweltschutz waren kein Thema, und auch heute hat die Gesellschaft nichts dagegen, möglichst billiges Essen auf den Teller zu bekommen. Mittlerweile werden die Bauern für viele Fehlentwicklungen, siehe Bodenausbeutung, Tierleid oder Klimawandel, verantwortlich gemacht. "Pestizide und Monokulturen haben in ökologischer Hinsicht sicher nichts besser gemacht", sagt Kaiser-Mühlecker.

Es gibt eine Reihe gewaltiger Belastungen, denen Landwirte und Landwirtinnen ausgesetzt sind: ein Arbeitspensum bis zur Selbstausbeutung, kaum Personal, weil das nicht drin ist, dafür ständig neue Regelungen und praxisferne Vorschriften, die den Betrieben übergestülpt werden. Nur ein Schlagwort: die neue GAP-Periode (Gemeinsame Agrarpolitik der EU). Für die Erläuterung der komplizierten Regeln gibt es inzwischen eigene Kurse. Die Digitalisierung in der Landwirtschaft – nur als Beispiel – bedeutet eine genaue Vermessung und Überwachung aller Landwirtschaftsflächen per Satellit. GPS-Systeme in den Betrieben werden wichtiger, und ohne Handysignatur geht auch hier nichts mehr: "Viele Ältere fühlen sich überfordert", weiß Kaiser-Mühlecker. Und dann die Wetterextreme. Auch sie machen das Wirtschaften auf den Höfen und das Einhalten sämtlicher Vorschriften schwieriger.

Sturm, Wind und Hagel

Dennoch wird das Wort "Klimawandel" in der Bauernschaft nicht gern gehört. Aber wie immer man es nennen mag, die Bauern bekommen die Veränderungen als Erste zu spüren. Dass Versicherungen jetzt beginnen, die Betriebe zu kündigen, ist wenig überraschend, vielmehr tragisch. "Die Höfe sind kein Geschäft mehr für sie", sagt Kaiser-Mühlecker zu den Sturm-, Wind- und Hagelschäden der vergangenen Jahre. Kein Wunder, dass viele nicht mehr wollen – oder können. Stichwort: Bauernsterben. Viele Junge tun sich den Knochenjob einfach nicht mehr an. Wenn doch, dann finden die Jungbauern schwer eine Frau, die das alles mitmacht, obwohl auf der anderen Seite noch immer 70 Prozent aller Lebensmittel weltweit von Kleinbauern erzeugt werden. Die meisten davon sind übrigens Frauen, laut den Infos, die Kaiser-Mühlecker nach dem Gespräch in Vorchdorf noch schickt.

Kaiser-Mühlecker trägt jetzt Bart. Schon von klein auf wusste er, dass er einmal den Hof übernehmen wird. Sein Auftreten ist zurückhaltend höflich. Das, was er zu sagen hat, spricht er angenehm leise aus – und meist druckreif. Jedes Jahr komme einer vom Bauernbund, erzählt er, um von ihm den Mitgliedsbeitrag zu kassieren. Dem sagt er dann: "Wenn du mir sagst, was ich davon habe, bin ich gern dabei." Aber irgendwie fällt dem Mann nichts Rechtes ein, er kassiert nur vom Vater den Altbauernbeitrag – und kommt im nächsten Jahr wieder. Beim Verlängerten in Vorchdorf geht es also auch um die Frage einer adäquaten Vertretung der Bauern in der Politik. Die Wirtschaftspartei ÖVP gilt nach wie vor als die Bauernpartei, steht aber unter Verdacht, sich mehr für die Großbauern und die Großindustrie einzusetzen, deshalb wählen wohl viele Junge mittlerweile eher die FPÖ, mutmaßt Kaiser-Mühlecker, die Grünen dafür kaum jemand, außer vielleicht ein paar Bios, und die Roten sind für die meisten ein No-Go: Die wollen uns doch enteignen, hört man. "Es herrscht da oft ein sehr altes Denken", weiß der Eberstalzeller.

Teilnehmer der Bauernproteste fahren in Köln mit ihren Traktoren im Korso und präsentieren dabei Schilder mit Aufschrift
Tierwohl und Umweltschutz waren lange kein Thema, und auch heute hat die Gesellschaft nichts dagegen, möglichst billiges Essen auf den Teller zu bekommen.
IMAGO/Christoph Hardt

Blick aufs Ganze

Möglich, sagt er, dass vielen seiner Zunft durch die Proteste erst bewusst werde, nicht allein mit den Sorgen zu sein. Denn meistens sind die Bäuerinnen und Bauern doch wie isoliert auf ihrem Hof. Jetzt teilen sie für ein paar historische Momente diese Probleme öffentlich und haben ein Mal das Gefühl, gehört zu werden. Wenn sie sich zum Beispiel über unfairen Wettbewerb beklagen. Die Landwirte wissen, dass etwa importiertes billiges Speisegetreide den heimischen Markt kaputtmacht und "mit Zeug behandelt wurde", so sagt es Kaiser-Mühlecker, das in Österreich schon lange verboten sei. "Auf der anderen Seite", führt er sichtlich emotional aus, "wird halb Südamerika abgeholzt, damit wir mit dem dort angebauten Soja unsere Schweine füttern." Darüber redet niemand.

Wichtig wäre jetzt – Stichwort Blick aufs Ganze –, sich zu fragen, was gewollt wird, und dabei endlich ehrlich zu sein. Das wünscht sich zumindest Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wo stehen wir? Was sind die Probleme? Und was braucht es für eine weiterhin möglichst kleinteilige, zukunftsfähige und nachhaltige Landwirtschaft, für deren Erhalt sich der Schriftsteller-Bauer einsetzt. Mit Sicherheit Geld! Auch wenn Kaiser-Mühlecker in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung angemerkt hat, den Bauern gehe es bei den Protesten weniger ums Geld als vielmehr um eine Wertschätzung ihrer Arbeit durch die Gesellschaft, fordert er entsprechende Mittel, damit der große Wissensschatz der Bauern nicht verlorengeht. Sei ein Hoftor erst einmal geschlossen, bleibe es zu. "Und können wir uns das leisten?", fragt er.

Forderung nach Unterstützung

Kaiser-Mühlecker geht es nicht darum, irgendjemanden zu alimentieren. Aber es werde für so vieles Geld ausgegeben. "Warum nicht für eine widerständige Landwirtschaft und eine unabhängige Nahrungsmittelversorgung?", fragt sich der Biobauer. Für ihn ist es unverständlich, warum es der europäischen Politik nicht gelingt, hier Strukturen zu schaffen. Immer heiße es, die Bauern werden fett subventioniert: "Kann schon sein, dass es Bauern gibt, die kontinuierlich sehr gut verdienen, ich kenne sie nur nicht!"

Apropos Wertschätzung: Was können die Konsumenten tun? Zuerst einmal darauf schauen, wo etwas herkommt. Aber das machen leider die wenigsten. Also müsste man die Handelsketten an die Kandare nehmen, sie haben die Bauern nämlich "unter ihrer Knute". So sagt es Kaiser-Mühlecker und findet als Autor für das, was in der Landwirtschaft und Wirtschaft falsch läuft, richtige Worte. Rundherum füllt sich die Gaststube langsam für das Abendgeschäft. Warum kommt das österreichische Wirtshausschnitzel nicht aus dem Inland? Ganz einfach, weil es keine Herkunftsbezeichnungen gibt, damit die Gastwirtschaften weiter billig einkaufen können. Kaiser-Mühlecker hat von den Eltern bereits einen Biobetrieb übernommen und gehört damit zu den wenigen der jüngeren Generation, die vielleicht nicht so sehr für die Fehler bezahlen, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Der Biobereich war immer eine gute Nische, aber seit der Teuerung fehlt auch hier die Nachfrage, und viele Betriebe stehen mit dem Rücken zur umgebauten Stallwand. Kaiser-Mühlecker weiß, dass Menschen gerne sagen, dass Tierwohl wichtig ist, am Ende greifen sie aber doch oft lieber zur Billigware. Auch bei ihnen bleibt das große Ganze auf der Strecke.

Das tägliche Stück Fleisch

Überall herrscht eine Geiz-ist-geil-Mentalität – und immer wieder kommt Kaiser-Mühlecker genau darauf zurück: dass der Blick zu stark auf das Eigene gerichtet wird, zu wenig auf das Ganze. Daran kranke die Gesellschaft. Auch die Bauern müssten Bereitschaft zeigen und anerkennen, dass es keine schnellen Lösungen geben wird, dass es nicht immer um den eigenen Vorteil gehen kann. Er kennt kein Menschenrecht auf das tägliche Stück Fleisch, aber viele Bauern, die selbst nur "den billigsten Scheiß im Supermarkt" kaufen. Fleisch sollte ein Luxusgut sein, sagt Kaiser-Mühlecker. Er selbst isst es nur einmal im Monat. Ein mitdiskutierender Bauer hat vor kurzem bei Im Zentrum postuliert: Wer in Österreich auswärts und heimische Bioprodukte essen wolle, bekomme die überhaupt nur beim US-Riesen McDonalds. Verrückte Welt.

Draußen auf dem Stadtplatz irren ein paar versprengte Faschingsnarren herum. Natürlich ist es ein Problem, wenn eine Partei auch den Bauern vormacht: Du musst nichts ändern, und Hitzewellen gab es vor 200 Jahren auch schon! In der Sendung Oberösterreich heute wurden vergangene Woche einige Aussagen Kaiser-Mühleckers in einem Beitrag über eine FPÖ-Pressekonferenz gebracht. Zum Gesagten steht er, hat sich aber in einem Statement klar von der FPÖ und ihrer, wie er schreibt, "destruktiven Kraft" distanziert. "Auch politische Parteien sollten langsam mehr darüber nachdenken, woher in Zukunft unser aller Essen kommen soll, und weniger darüber, wie sie bei der nächsten Wahl abschneiden", sagt der Bauer Kaiser-Mühlecker am Ende unseres Gesprächs. Der Schriftsteller Kaiser-Mühlecker will sich nach den vielen Interviews zur Landwirtschaft jetzt wieder seiner Literatur zuwenden. Der Winter eignet sich gut zum Schreiben. Schon am 14. August erscheint ein neues Buch. Das Thema lässt ihn nicht los. Der Titel seines nächsten Romans: Brennende Felder. (Mia Eidlhuber, 17.2.2024)