André Heller.
Sein eigenes Versuchskaninchen sein: André Heller.
Joachim Haslinger

Was war, was ist, was könnte sein? Das sind Fragen, die den 1947 in Wien geborenen Francis Charles Georges Jean André Heller-Hueart ein Leben lang umgetrieben haben. Dieser Tage erscheint eine Neuausgabe seines Debütromans Schattentaucher mit einem Nachwort von Josef Winkler. Für den Künstler, Liedermacher, Kulturmanager und Autor Heller ist das ein guter Anlass, sein ehemaliges Kinder- und Jugend-Ich, den Franzi, zu diesem Selbstgespräch zu treffen.

André: Wo kommst denn du her?

Franzi: Aus unserer Vergangenheit. Von damals, als alles so war wie nie zuvor und nie danach.

André: Wie alt bist du denn?

Franzi: Dreizehn Jahre. Ich habe dich lange nicht gesehen.

André: In meinen Träumen hast du schon noch überraschende Auftritte. Wir umarmen einander dann innig und weinen. So etwas geschieht sonst nur ein bis zwei Mal im Jahr, wenn mir unser tyrannischer Vater plötzlich im Schlaf erscheint. Manchmal trägt er einen Bademantel und eine lächerliche Wollmütze wie eine Figur von Wilhelm Busch. Ich bitte ihn, mir seine linke Innenhand zu zeigen, und aus den Lebenslinien prophezeie ich ihm, dass er bald sterben wird. Einmal hat er geantwortet: "Aber ich bin doch schon begraben. Und du bist es auch, seit langem."

Franzi: Ich habe noch bis zur dritten Klasse Volksschule gedacht, dass jeder, der stirbt, vom Herrn Tod persönlich ermordet wird. Eine andere Art, einen Körper zu verlassen, konnte ich mir nicht vorstellen.

André: Hast du an eine Seele geglaubt?

Franzi: Ja, so wie in den Zaubertheaterstücken von Ferdinand Raimund, wo die Feen, Geister und Genien auf ihren Wunsch hin zwischen der irdischen Wirklichkeit und der überirdischen die Orte wechseln konnten.

André: Siegfried und Roy haben das auch gekonnt. Das kann man bei einiger Begabung durchaus lernen.

Franzi: Unsere Mutter sagte oft über mich: Der Franzi ist ein nervöses Kind. Das war die Bezeichnung für alles Außenseiterische. Ein Heuschreck, der ein Krokodil sein will, ein Geiger mit der Sehnsucht, ein Stein zu sein.

André: Wie ist dir denn unsere Mutter vorgekommen? Liebenswert, bedauernswert, harmlos?

Franzi: Ich fand sie mondän. Das Wort habe ich zum ersten Mal bei einer Ministrantenschulung vom Hietzinger Pfarrer gehört. Er sagte, Maria Magdalena war eine Mondäne. Ich dachte, das muss etwas Sündiges sein, wofür man ins Fegefeuer kommt, den Raum mit den roten Zellophanflammen.

André: Sie war bis zuletzt eine kluge, weltoffene und unglaublich elegante Dame, die ihre Qualitäten unter den Scheffel stellte. Sie fand Thomas Bernhard großartig, hatte aber in ihrer Bibliothek auch Fix und Foxi-Hefte. Sie hörte freiwillig Schönberg und dann wieder den Schlagersänger Fred Bertelmann. Das war für uns auch ein kindisches Streitthema. Sie sagte: "Misch dich nicht in meine Fehler, du hast selber genug." Damit hatte sie recht.

Franzi: Wer oder was hat mir denn damals mit zwölf oder dreizehn am meisten imponiert? Weißt du das noch?

André: Ohne Zweifel der Oskar Werner. Du dachtest, für den wurde das Theaterspielen erfunden. Er war in allem anmutig, summa summarum ein Glück erster Klasse. Seine Aura reichte von Ottakring bis Timbuktu.

Franzi: Womit kann man dir heute imponieren?

André: Nach dem Abschied von Gert Voss knie ich vor keinem Schauspieler mehr, aber es gibt so viele Meisterwesen zwischen Joseph Roth, Giacometti und Haneke und Gesangsgöttinnen wie Maria Callas und Aretha Franklin, die es verlässlich schaffen, mich emotional auszuhebeln. Auch die unerbittlichen, brüchigen Verkündigungen Bob Dylans empfinde ich jedes Mal ernsthaft als Wunder, wie etwa den Anblick der Sagrada Família. Als Dylan den Literaturnobelpreis erhalten hat, war es mir eine Zeitlang möglich, an die Existenz von Gerechtigkeit zu glauben. Für Kultursnobs, die meinen und hoffen, die sogenannte Kunst wäre ein Geheimbund für eine handverlesene Elfenbeinturm-Priesterschaft, war das natürlich eine krachende Niederlage.

Franzi: Du wolltest immer Brücken zwischen denElitären und den an Freude und Sinnlichkeit interessierten Normalsterblichen errichten. Glaubst du, dass dir das gelungen ist?

André: Häufig ja. Zum Beispiel bei dutzenden meiner Shows und Lieder oder bei den Kristallwelten und all meinen Gärten. Mein erstes Theaterstück, King-Kong-King-Mayer-Mayer-Ling, 1972, war allerdings für mich ein unvergessliches Desaster. Ich erlebe übrigens gerade mit Erstaunen wie, nach fünfunddreißig Jahren der Nichtbeachtung, der Vergnügungspark Luna Luna, eines meiner liebsten Projekte, in Los Angeles vom Publikum und den Medien enthusiastisch gefeiert wird. Beinahe wie eine echte Mondlandung.

André Heller, "Schattentaucher. 61 Beschreibungen aus dem Leben des Ferdinand Alt". Roman. Mit einem Nachwort von Josef Winkler. € 24,70 / 174 Seiten. Zsolnay-Verlag, 2024.
Zsolnay

Franzi: Bist halt doch in manchem ein Glückskind. Ich schaue dich seit Beginn unseres Gesprächs sorgfältig an und bemerke immer noch so viel Angst in deinen Augen.

André: Woran erkennst du das?

Franzi: Du schließt sie öfter als üblich. Wahrscheinlich gibt es zu viel, das du nicht sehen willst.

André: Ich kann mir vorstellen, dass das von meinem treuen Horror vor Kontrollverlust und den wilden Launen meines Körpers kommt. Erst spät habe ich begriffen, dass ich nicht mein Körper bin und auch nicht meine Gedanken. Ich bin sie nicht, aber ich habe sie. Letztere können, wenn man sie nicht zügelt, grausame Bestellungen auf Schmerzen und Wutpeinlichkeiten, Blamagen und Fallgruben sein. Mittlerweile habe ich aber, schon rein statistisch, eine innere Gewissheit, dass ich beschützt bin. Meine Großmutter, die man im Mittelalter aufgrund ihres ketzerischen Charakters vermutlich öffentlich verbrannt hätte, sagte immer, wenn sie mich trösten wollte: "Bub, du kannst nicht tiefer fallen als in die Hände Gottes." Diejenigen, die mich verletzten wollen, wissen nicht, dass ihre Bemühung gefährlich auf sie zurückfällt. Ich halte es für ein Naturgesetz, dass, wer anderen eine Gemeinheit antun will, sie sich selbst antut. Ich weiß, dass Freundlichkeit und Vergebung viel machtvoller sind als Hass.

Franzi: Was bedeutet dir Erfolg?

André: Das ist kompliziert. Es bedeutet etwas, mit dem du dich selbst keinesfalls verwechseln darfst. Es ist ein großzügiges Geschenk des Universums zum Zweck einer wirklich profunden Ausbildung, für manche ist das Resultat allerdings, nicht ausgebildet zu sein, sondern eingebildet. Zum Sich-Ver-ändern ist es natürlich nie zu spät. Wenn man aber überfällig doch einmal den Deppen in sich erkannt hat, sollte man ihn höflich vor die Türe bitten und wenn möglich für immer verabschieden. In ein paar Wochen werde ich 77, da bleibt Gott sei Dank noch einiges an Platz für Erfahrung und Verwandlung. Die Neugier hört nicht auf, mich fest im Griff zu halten. Das hat dazu geführt, dass ich mein eigenes Versuchskaninchen wurde.

Franzi: Was war das Unglaublichste, das du im vorigen Jahr erlebt hast?

André: 2023 bin ich von Prüfung zu Prüfung gestolpert, in eine Serie von finstersten Abgründen und Schrecken. Jede einzelne Herausforderung hat mich an die Kostbarkeit von Zeit erinnert und daran, dass man seine Kräfte nicht überschätzen soll. Freundlicherweise wurde mir nichts zugemutet, das ich letztlich nicht stemmen konnte. Man ist in solchen Phasen natürlich immer auf liebevolle Hilfe angewiesen und auf die Güte und Barmherzigkeit anderer. Es schadet definitiv nicht, derlei erfahren zu haben. Man hätte gerne so etwas Großartiges wie die Quellen des Nils entdeckt, und dann entdeckt man etwas viel Wertvolleres: die Quellen des Vertrauens, der Achtsamkeit, der Dankbarkeit und des Schweigens. (André Heller, 18.2.2024)