Scott Brown gehört zu einer immer seltener werdenden Spezies: den englischen Konservativen. Emsig wanderte der Kommunalpolitiker in den vergangenen Wochen durch die Straßen im lieblichen Wellingborough und der näheren Umgebung in der Grafschaft Northampton, steckte Werbezettel für die Kandidatin seiner Partei in die Briefkästen, unterhielt sich mit den Leuten. Da sei natürlich die ungute Wirtschaftslage zur Sprache gekommen, auch die hohen Lebenshaltungskosten, die Inflation, berichtete Brown am Freitagmorgen. "Und die Leute wissen nicht recht, wofür wir stehen, mit all diesen Gruppierungen und Fraktionen. Wir laufen Gefahr, unsere Identität zu verlieren."

Rishi Sunak versucht die Wahlschlappe zu erklären – doch das gelingt ihm nicht überzeigend.
Rishi Sunak versucht die Wahlschlappe zu erklären – doch das gelingt ihm nicht überzeugend.
IMAGO/Tayfun Salci

Was Brown zu Ohren kam, mündete bei den beiden Nachwahlen vom Donnerstag erneut in eine furchtbare Auszählungsnacht. Das Resultat für die einst stolzen Tories war nicht nur der Verlust von zwei weiteren Unterhausmandaten – Nummer neun und zehn in dieser Legislaturperiode: So starke Einbußen hat seit den 1960er-Jahren keine britische Regierungspartei mehr erlebt. Schlimm aus konservativer Sicht war nicht nur der anhaltende Siegeszug der Labour-Opposition, sondern auch das Erstarken einer populistischen Rechts-außen-Partei: Reform UK, einstmals Nigel Farages Brexit-Party, holte sowohl im Wahlkreis Wellingborough wie auch in Kingswood bei Bristol in Westengland zweistellige Ergebnisse.

Schon sprechen Parteiveteranen wie Lord Gavin Barwell, einst Büroleiter der Premierministerin Theresa May, von einer "katastrophal schlimmen" Situation: Den Tories laufen die Wähler sowohl nach links wie nach rechts davon.

"Widrige Umstände"

Premier Rishi Sunak verwies auf "widrige Umstände". Die Wahlbeteiligung sei sehr niedrig gewesen, zudem hätten die Ursachen der beiden Nachwahlen für seine Partei "eine besondere Herausforderung" dargestellt. Tatsächlich war der Mandatsinhaber in Wellingborough, Peter Bone, von der Wählerschaft zum Rückzug gezwungen worden, was nach englischem Recht möglich ist. Zuvor hatte der Ältestenrat des Unterhauses ihn bezichtigt, einen Untergebenen gemobbt und sexuell bedrängt zu haben. Dass die örtliche Parteigliederung ausgerechnet Bones Partnerin auf den Kandidatenschild hob, kam offenbar bei der Wählerschaft auch nicht sonderlich gut an.

Beinahe noch peinlicher für Sunak stellte sich die Situation in Kingswood dar. Dort hatte der Ex-Staatssekretär Chris Skidmore frustriert hingeschmissen und seinen Premier bezichtigt, dieser nehme die Klimapolitik nicht richtig ernst. Tatsächlich haben sich die Konservativen von der grünen Rhetorik ihres einstigen Publikumslieblings Boris Johnson weit entfernt.

Zu guter Letzt wiederholte Sunak auch jenen Satz, den politisch interessierte Briten seit zwei Jahren von Tory-Vertretern hören: Im Land gebe es "keine große Begeisterung für die Labour Party und Keir Starmer". Mag der Oppositionsführer tatsächlich nicht gerade die Massen in Wallung versetzen, mögen die Briten generell in pessimistischer Stimmung sein und ihren Politikern wenig zutrauen: Der 61-jährige einstige Leiter der englischen Staatsanwaltschaft ist "auf dem Weg in die Downing Street", wie der für seine präzisen Analysen bekannte Politologe John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität in der BBC resümierte. So schlecht habe die Situation für eine Regierungspartei zuletzt Mitte der 1990er-Jahre ausgesehen. Bei der folgenden Unterhauswahl fegten die Wähler 1997 die Tories aus dem Amt, Tony Blair begann eine insgesamt 13 Jahre dauernde Labour-Herrschaft.

Keir Starmer – auf dem Weg in die Downing Street 10?
Keir Starmer – auf dem Weg in die Downing Street 10?
EPA/ANDY RAIN

So weit sei es aber noch lange nicht, sagte Starmer und warnte seine Partei vor Nachlässigkeit: "Wir müssen kämpfen, als ob wir um fünf Prozent zurückliegen." Wie schnell auch eine scheinbar unangefochtene Opposition ins Wanken geraten kann, offenbarte zu Wochenbeginn eine neue Kontroverse um den Antisemitismus in der alten Arbeiterpartei. Nach knapp zweitägigem Zögern musste Starmer sich von seinem Kandidaten für die in zwei Wochen anstehende Nachwahl in Rochdale distanzieren. Damit steht Azhar Ali zwar als Labour-Mann auf dem Stimmzettel, gehört im Erfolgsfall aber nicht zur Labour-Fraktion im Unterhaus. Das habe keiner seiner Vorgänger im Parteivorsitz jemals gemacht, brüstete sich Starmer: "Ich habe mich klar gegen Antisemitismus gestellt." Das Problem macht Labour seit der Amtszeit von Starmers Vorgänger Jeremy Corbyn zu schaffen.

Premier Sunak macht die schlechte Wirtschaftslage zu schaffen, die hohe Inflation, die langen Wartelisten im Gesundheitssystem NHS – allesamt Probleme, die anzupacken der Regierungschef vor Jahresfrist versprochen hatte. Hinzu kommt die innerparteiliche Zersplitterung, von der Kommunalpolitiker Brown spricht: Ehrgeizige Kandidatinnen wie Ex-Premierministerin Liz Truss und die Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch lauern auf ihre Chance, den glücklosen Parteichef zu beerben. Einer der potenziellen Rebellen, Ex-Minister Jacob Rees-Mogg, schloss einen Aufstand zum jetzigen Zeitpunkt aber aus: Sunaks Position sei "solide". (Sebastian Borger, 16.2.2024)