Schwarze Frau hält Rasierklinge in die Kamera
Die Genitalverstümmelungen junger Mädchen werden oft unter sehr unhygienischen Bedingungen durchgeführt. Dadurch kommt es häufig zu Infektionen. Ehemalige Beschneiderinnen sind wichtige Verbündete im Kampf gegen diese Tradition.
Mustafa Saeed/Kindernothilfe

Die Zahlen sind erschreckend: Mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen sind beschnitten, schätzt die WHO. Wobei Beschneidung verharmlosend ist, treffender ist die Bezeichnung weibliche Genitalverstümmelung, häufig auch als FGM bezeichnet (kurz für Female Genital Mutilation). Und die WHO warnt auch: Die Eingriffe geschehen meist unter unhygienischen Bedingungen, ohne Betäubung oder geschultes Personal.

Oft kommt es bei dieser Tradition zu lebensgefährlichen Komplikationen und chronischen Problemen. Mädchen und Frauen, deren äußere Geschlechtsorgane teilweise oder vollständig entfernt wurden, leiden danach nicht selten an lebensgefährlichen Infektionen, Blutungen und chronischen Problemen sowie Schmerzen während der Menstruation, beim Urinieren und beim Geschlechtsverkehr.

In Somalia sind 98 Prozent der Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelung betroffen – das ist die höchste Rate der Welt, berichtet Asia Abdulkadir. Sie ist Länderkoordinatorin der Kindernothilfe in Somalia und befasst sich seit über 20 Jahren mit dem Thema. Gemeinsam mit lokalen Partnerorganisation setzt sich die Kindernothilfe für ein Ende dieser Menschenrechtsverletzung ein. Aber ein Bewusstseinswandel vollzieht sich nur langsam. Zu tief sind die Praktiken gesellschaftlich verankert, und auch politisch tut sich kaum etwas.

STANDARD: Sie kämpfen seit Jahrzehnten für ein Ende der weiblichen Genitalverstümmelung. Wie kam es dazu?

Abdulkadir: Ich komme ursprünglich aus Eritrea. Während meiner Studienzeit in Deutschland bin ich über ein Buch zu dem Thema gestolpert. Ich dachte dann: Moment mal, ich komme ja auch aus einem Land, in dem das sehr weit verbreitet ist. Warum hat noch nie jemand darüber gesprochen? Ich wusste noch nicht einmal, ob mir das selbst passiert war.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Abdulkadir: In Eritrea wird in den ersten 40 Tagen nach der Geburt beschnitten. In Somalia dagegen sind die Kinder meist zwischen acht und zwölf Jahren alt, dann kann sich das Kind daran erinnern. Viele stellen es aber nicht infrage. Wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der weit über 90 Prozent der Frauen beschnitten sind, ist das auch für einen selbst die Norm. Niemand denkt: Oh, meine Probleme mit der Regelblutung sind irgendwie nicht normal. Denn um einen herum haben ja alle dieselben Probleme. Dazu kommt, dass über das Thema lange Zeit kaum gesprochen wurde.

STANDARD: Sie sind Länderkoordinatorin der Kindernothilfe in Somalia. Dort sind so viele Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen wie sonst nirgendwo. Woran liegt das?

Abdulkadir: Die Gründe, warum das in manchen Ländern mehr und in anderen weniger verbreitet ist, kann man nur schwer erfassen. In Ländern wie Südafrika beispielsweise kennt man diese Praxis quasi nicht. Den Ursprung vermutet man irgendwo in Ägypten. Ich denke, dass die Verbreitung mit den von dort ausgehenden Migrationsbewegungen zusammenhängt.

STANDARD: Hierzulande ist der Begriff "Genitalverstümmelung" für viele nur schwer greifbar. Was passiert dabei konkret?

Abdulkadir: Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Mancherorts wird die mildeste Form durchgeführt und ein Teil der Klitoris beschnitten, in Somalia hingegen wird die radikalste Form praktiziert. Man nennst sie Infigulation. Dabei werden die Klitoris, die Vagina und die Vulvalippen beschnitten, also so ziemlich alle Bereiche der weiblichen Genitalien. Es bleibt nicht viel übrig außer einer kleinen Öffnung für den Urin und die Menstruation, der Rest wird zugenäht.

Porträtfoto von Asia Abdulkadir
"Vor allem ältere Frauen haben patriarchale Rollen verinnerlicht und werden so selbst zu Täterinnen", sagt Asia Abdulkadir. Sie habe großes Verständnis für diese Frauen, sie seien ja selbst Opfer des Systems – die später zu Täterinnen werden.
Kindernothilfe

STANDARD: Das passiert oft unter dem religiösen Deckmantel, man würde durch die Praxis unverheiratete Frauen und Mädchen schützen. Wovor denn?

Abdulkadir: Es hat auch religiöse Gründe, ja, aber nicht nur. Am Ende geht es immer um die Kontrolle von Frauen, von deren Körper und ihrer Sexualität. Die vermeintliche Unschuld der Frau wird auch sehr oft mit der Ehre der gesamten Familie assoziiert.

STANDARD: Das Thema ist also auf vielen verschiedenen Ebenen relevant. Patriarchale Strukturen spielen genauso eine Rolle wie gesellschaftliche oder religiöse Aspekte. Wo fängt man da an im Kampf gegen Genitalverstümmelung?

Abdulkadir: Möglichst ganzheitlich, aber vor allem beim patriarchalen System. Das spielt in alle Bereiche mit rein. Und es ist nicht erst die Genitalverstümmelung ein Zeichen für die Unterdrückung der Frau, es beginnt viel früher, etwa bei finanzieller Abhängigkeit. Die Kindernothilfe gibt deshalb mit lokalen Partnerorganisationen den Frauen Trainings und zeigt, wie sie finanziell unabhängiger werden. Das Thema ist also irrsinnig vielschichtig. Deshalb arbeiten wir auch genauso mit Männern, religiösen Führern, mit Beschneiderinnen und Kindern und Jugendlichen.

STANDARD: Welche Rolle spielen die Männer?

Abdulkadir: Sie müssen sensibilisiert werden, Verantwortung übernehmen und die Abschaffung der Genitalverstümmelung mittragen. Wenn eine Mehrheit von Männern sagen würde, wir heiraten keine beschnittenen Frauen mehr, dann könnte sich das ganze drastisch ändern. Insofern spielen Männer eine enorm wichtige Rolle. Die Frauen aber genauso.

STANDARD: Inwiefern?

Abdulkadir: Ich kenne viele Geschichten von Familien, in denen die Mutter gesagt hat, dass ihre Tochter später sicher nicht beschnitten wird. Aber wenn die Mutter dann einmal verreist war, haben die Groß- und Schwiegermutter die Kleine hinter ihrem Rücken beschnitten. Besonders ältere Frauen haben patriarchale Rollen, die ihnen zugeschrieben wurden, verinnerlicht.

STANDARD: Haben Sie dafür Verständnis?

Abdulkadir: Ja, großes Verständnis. Diese Frauen sind nur Opfer dieses Systems, die dann später zu Täterinnen werden. Meine Großmutter hatte schlicht nicht die Möglichkeiten, die ich jetzt habe, etwa den Zugang zu Bildung oder Ähnlichem. Sie kennt nichts anderes als diese Traditionen. Das ist natürlich frustrierend, aber ich habe dem gegenüber ein sehr versöhnliches Verhältnis.

Wir arbeiten deshalb auch intensiv mit ehemaligen Beschneiderinnen, das sind Vorreiterinnen im Kampf für die Abschaffung. Diese meist älteren Frauen gehen dann auf angehende Mütter zu und überzeugen sie, ihre Töchter nicht zu beschneiden, und sie überzeugen andere Beschneiderinnen, ihr Handwerk abzulegen. Ich fühle mich sehr solidarisch mit allen Frauen. Als Feministin sehe ich die Frauen auch in erster Linie als Opfer dieses Systems.

STANDARD: In Somalia sind noch immer 98 Prozent der Frauen und Mädchen davon betroffen, es scheint sich kaum etwas zu tun. Ist Ihre Arbeit nicht manchmal frustrierend?

Abdulkadir: Nein, weil ich die Verbesserung jeden Tag in der Gesellschaft sehe. Ich sehe, wie immer mehr Frauen empowert sind, Dinge selbst in die Hand nehmen und zu sprechen. Und sich das Sprechen nicht verbieten lassen. Und ich beobachte, wie offen man mittlerweile über das Thema reden kann. Ich kann selbst im tiefsten Somaliland mit den Dorfältesten und dem religiösen Führer stundenlang darüber diskutieren, das war früher unmöglich. Aber das lässt sich natürlich nicht in Zahlen messen …

STANDARD: Auch auf politischer Ebene tut sich kaum etwas, hat man den Eindruck. In Somalia gibt es nicht einmal ein Gesetz gegen die Beschneidung.

Abdulkadir: Das stimmt. Es ist frustrierend, weil es zwar ab und zu sehr wohlwollende Politiker gibt, mit denen wir gut zusammenarbeiten, aber das System ist sehr instabil. Oft hat man dann nach sechs Monaten plötzlich wieder einen neuen Minister, der nichts mehr vom Schaffen seines Vorgängers wissen will. Davon abgesehen ist die Politik ohnehin nur eine Ebene, es braucht parallel dazu Aufklärung im privaten Bereich. Ein Gesetz, das die Praxis auf dem Papier kriminalisiert, während sie im Privaten nach wie vor praktiziert wird, bringt nichts.

STANDARD: Viel Aufklärungsarbeit bleibt deshalb an NGOs wie der Kindernothilfe hängen …

Abdulkadir: Ja, und das Erfreuliche ist, dass sich immer mehr Organisationen gesammelt für die komplette Abschaffung der Genitalverstümmelung einsetzen. Lange wurde darüber diskutiert, ob man sich nicht mit einem Kompromiss zufriedengeben könnte, dass etwa nur noch die mildeste Form der Beschneidung praktiziert wird. Aber mittlerweile stehen immer mehr geschlossen für die komplette Abschaffung. Und nur das kann das Ziel sein. (Magdalena Pötsch, 21.2.2024)