Mit Abfahrtssilber bei der WM in Courchevel/Méribel 2023 schöpfte Nina Ortlieb neue Hoffnung, den von vielen Negativerfahrungen gepflasterten Weg weiter zu gehen. Im Dezember folgte allerdings der nächste Rückschlag.
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Wer sehr gern auf Skiern steht, kann vielleicht nachvollziehen, warum Nina Ortlieb nicht längst einen Schlussstrich gezogen hat. Die 27-Jährige aus Lech am Arlberg wurde in den vergangenen Jahren immer wieder von schweren Verletzungen zurückgeworfen, mehr als 20 Mal operiert, kam aber stets wieder zurück. "Natürlich fragt man sich manchmal, wie viele Verletzungen der Körper noch ertragen kann", gesteht sie dem STANDARD.

Ortlieb hatte vor dem Speedauftakt Anfang Dezember in St. Moritz einen Schien- und Wadenbeinbruch erlitten. Nun ist wieder einmal monatelange Reha angesagt, ehe sie wieder daran denken kann, ihre zwei Bretter anzuschnallen. "Es war schwierig für mich, weil ich toll in Form war und die ganze Saison verloren habe. Ich hatte kein einziges Rennen, wo ich zeigen konnte, wofür ich die neun Monate davor trainiert habe."

Erst im Jänner 2021 hatte sich die Tochter von Olympiasieger Patrick Ortlieb das vordere Kreuzband, Innenband, den Außenmeniskus und die Patellasehne gerissen und die Olympischen Spiele in Peking verpasst. Nach einem weiteren schweren Sturz kam sie neuerlich angeschlagen zur Ski-WM 2023, wo sie in Méribel sensationell Abfahrtssilber gewann. "Irgendwo habe ich mir immer wieder beweisen können, dass es zum Zurückkommen und für die Spitze reicht, auch wenn nicht mehr alles perfekt geworden ist", sagt sie. Aber die Medaille gab ihr neue Hoffnung.

In ihrem Leben müsse sie jedoch Abstriche machen, so bereite es ihr etwa Probleme, steil bergab zu gehen. "Ich werde vielleicht nie mehr richtig tolle Bergtouren gehen können." Ihr gehe es aber nicht so sehr darum, was sie nicht mehr machen könne, sondern vielmehr darum, dass sie wieder auf höchstem Niveau Skirennfahren könne. Ihr größter Antrieb? "Ich glaube fest daran, dass ich noch mehr erreichen kann." Bei der Heim-WM 2025 in Saalbach möchte sie bereits wieder um die Medaillen mitrasen.

Verletzungen en masse

Ortliebs Verletzungsakte gleicht einem Wälzer: neben mehreren Knieverletzungen hat sie Brüche im Becken, Schambein, Oberarm, Mittelhandknochen (dreimal), Sprunggelenk (zweimal) und in den Rippen erlitten. Dazu kommen eine Schulterluxation und eine mehrfach lädierte Nase. Ihr helfe, sagt sie, dass sie Vieles durchgemacht und gesehen habe, was möglich sei, auch wenn man in Phasen der Verletzung sehr weit weg sei von seinen Zielen. Nach schweren Verletzungen wieder zurückzukommen und zu gewinnen, habe etwa auch die US-Amerikanerin Lindsey Vonn geschafft. "Man muss selbst dran glauben und sich Schritt für Schritt zurückarbeiten. Das ist kein leichter Weg, aber da muss man durch."

Ortlieb schätzt sich glücklich, noch nicht an dem Punkt angekommen zu sein, wo der Frust über die Verletzung den Willen weiterzumachen überwiegt. Und sie ist froh, überhaupt noch die Option zu haben weiterzufahren. Als Athlet habe man durchaus Respekt oder sogar Angst davor, dass eine Verletzung nicht mehr in erforderlichem Maße auskuriert werden kann. "Es tut weh, wenn man Thomas Dreßen zuschaut und sieht, dass es nicht mehr funktioniert, auch wenn er möchte. Dadurch wird einem noch mehr bewusst, dass man die Chance hat, auch wenn man viel dafür tun muss. Dadurch ist man aber auch noch mehr gewillt, es zu probieren.”

Man solle aber nicht zu viel überlegen, was sein könnte. "Wichtig ist, dass man im Kopf positiv bleibt und sich nicht zu sehr mit Ängsten konfrontiert." Momente des Zweifels gelte es durchzustehen. "Jeder Mensch hat Ängste und Zweifel, aber oftmals sind es unbegründete, die einem nicht weiterhelfen." Man solle vielmehr darauf schauen, wie man die Situation verbessern könne. "Wichtig ist zu spüren, dass etwas weitergeht, das gibt viel Motivation." Schwierig sei allerdings schon, wenn man keine Antworten habe. "Aber irgendwann akzeptiert man und versteht es. Und man orientiert sich an anderen Zielen, die einen dorthin bringen können. Es klingt banal, aber wenn ich fürchte, was in fünf Monaten sein könnte, geht es mir jetzt schon schlecht."

Umfangreiches Reha-Programm

Ortliebs Alltag während der Reha gleicht vom Aufwand her dem eines normalen Berufs: Mehrmals am Tag Training und Therapie, meist eine Einheit mit Fokus auf Krafttraining für die Beine oder den Oberkörper, Wassertherapie, Ausdauereinheit am Ergometer, Magnetfeldtherapie, Physiotherapie, Erholungsmaßnahmen, Kühlmaschine. "Man hat zeitlich einen hohen Aufwand, dazu kommt, dass das Gehen noch nicht so leicht ist. Viele unterschätzen, was es braucht, wieder dahin zu kommen, wo man war. Eine Verletzung passiert in einem Bruchteil einer Sekunde, der Weg zurück dauert Monate."

Prinzipiell sei sie mit dem Heilungsverlauf zufrieden, es gebe aber natürlich bessere und schlechtere Tage. "Es ist eine schwerwiegende Verletzung, die auch mit Schmerzen verbunden ist. Aber ich bin gut im Zeitplan und freue mich schon auf die nächste Kontrolle, wenn ich auf neuen Röntgenaufnahmen sehe, wie weit die Heilung fortgeschritten ist", sagt die zweifache Siegerin eines Weltcup-Super-Gs. Sie stand 2020 in La Thuile und 2023 in Kvitfjell jeweils ganz oben.

Passiert ist ihr das Malheur beim Einfahren für den Super-G in St. Moritz. Dabei wird allerdings nicht herumgerutscht, sondern ein Super-G-Lauf bestritten. Vom Sturz gibt es keine Videoaufnahmen, nur Augenzeugen. "Vieles deutet darauf hin, dass Pech im Spiel war. Ich bin mir nicht sicher, was passiert ist. Der Sturz bei schlechtem Wetter und schwierigen Bedingungen kam ziemlich unerwartet. Und es braucht mit knapp 100 km/h nicht viel, dass man sich schwer verletzen kann."

Die vielen schweren Verletzungen von arrivierten Läuferinnen und Läufern in den vergangenen Wochen geben auch Ortlieb zu denken. "Es zeigt einem, dass man nicht allein ist mit dem Schicksal und dass man nie davor bewahrt ist, dass wieder etwas passiert. Der Grat zwischen schnell Skifahren und verletzt sein ist schmal."

Dickere Rennanzüge

Viel wurde in den vergangenen Jahren diskutiert, wie man den Skirennsport sicherer gestalten könnte. Etwa durch Materialentschärfung, veränderte Kurssetzung oder Pistenpräparierung. "Viel ist nicht passiert", sagt Ortlieb. "Die Netze funktionieren, aber oft passiert die Verletzung schon davor. Am leichtesten umzusetzen wären schnittfeste Skiunterwäsche und dickere Rennanzüge, wodurch einiges an Tempo rausgenommen werden könnte. Das wäre eine Maßnahme, die umsetzbar wäre und den Sport sicherer macht, aber nicht uninteressanter, weil es den Zuschauern kaum auffallen würde."

Sie gibt zu bedenken: "Vielleicht hat eine so prägende Saison passieren müssen, damit auch mit dem medialen Druck ein weiterer Schritt passiert. Man will keine schweren Verletzungen sehen. Außerdem brechen viele Leute weg, mit denen man den Sport verbindet. Dadurch sinkt dann auch das Interesse." (Thomas Hirner, 18.2.2024)