Die Sozialhilfe – früher: Mindestsicherung – ist in diesen Wochen wieder sehr im Gespräch. Die politischen Signale gehen dabei in Richtung Verschärfung, zumindest nach dem Willen der ÖVP in ihrem unlängst präsentierten Österreich-Plan.

Fünf Jahre Wartefrist auch für anerkannte Flüchtlinge – für andere Drittstaatangehörige gilt das schon jetzt –, mehr Sach- statt Geldleistungen: So stellt sich die Kanzlerpartei die Zukunft des untersten sozialen Absicherungsnetzes in Österreich vor. Die Idee dahinter: Die Einschränkungen sollen weitere Flüchtlinge abhalten und Sozialhilfeempfänger zu möglichst rascher Jobannahme motivieren.

Gegen politische Härteparolen

Im Vergleich dazu wirkt ein neuer Bericht von Amnesty International über die Zugänglichkeit der Sozialhilfe in Österreich – und die sich daraus ergebenden Forderungen – wie ein Kontrastprogramm. Die Expertise nämlich, die anlässlich des Welttags der sozialen Gerechtigkeit am Dienstag erstellt wurde, konstatiert: Viele Menschen in Österreich, die dringend Sozialhilfe bräuchten und auch ein Anrecht auf sie hätten, erhalten diese nicht.

Eine Frau nimmt Geldscheine aus einer Geldbörse
Um aus der Sozialhilfe Geld zu bekommen, müssen Armutsbetroffene eine Menge Auflagen erfüllen.
imago images/photothek

Das sei inakzeptabel, sagt Amnesty-Researcherin und Berichtsverfasserin Ronya Alev. Statt Härteparolen gegen Armutsbetroffene auszurufen, müsse die Politik vielmehr "Armut in Österreich als menschenrechtliches Problem anerkennen, das es zu lösen gilt".

Schutz vor Armut ist Menschenrecht

Schon im Herbst 2023 hatte Amnesty eine erste einschlägige Analyse vorgelegt, laut der das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz menschenrechtswidrig ist. Das Menschenrecht eines Schutzes vor Armut werde für die bundesweit rund 190.000 Sozialhilfebezieher und -bezieherinnen nicht eingelöst.

Die neue, 60-seitige Amnesty-Expertise beschreibt, warum etliche Anspruchsberechtigte ihren Anspruch nicht geltend machen. Grund dafür seien "rechtliche, praktische, aber auch gesellschaftliche Hürden", sagt Autorin Alev.

Das beginne mit der Antragstellung, bei der es zum Teil schikanöse Auswüchse gebe. So müssten für den Sozialhilfeantrag extrem viele Dokumente und Nachweise vorgelegt werden. Manche der verlangten Unterlagen, etwa Bankauszüge, würden extra Geld kosten, das gerade Armutsbetroffenen nicht hätten.

Überbordende Formulare und Nachweise

Auch seien manche Formulare in einer komplizierten und bürokratischen Sprache abgefasst, die für viele Betroffene – und auch so manchen Sozialarbeiter und so manche Sozialarbeiterin – nur schwer verständlich sei, sagt Alev.

Eine Hürde seien auch die verlangten Nachweise der Einkommens- und Vermögenssituation – nicht nur von der antragstellenden Person selbst, sondern von allen im Haushalt lebenden Menschen. Dass auch Familienmitglieder ihre Finanzen offenlegen müssen, führt laut dem Bericht regelmäßig zu Streit und Abhängigkeiten.

Menschen mit Kinderbetreuungspflichten wiederum würden oft an den sogenannten Mitwirkungspflichten scheitern: den Nachweisen, arbeitswillig zu sein und entsprechende Jobangebote anzunehmen oder, im Fall von Migrantinnen, Deutschkurse zu besuchen. Sei ihnen das wegen fehlender Kinderbetreuung unmöglich, riskierten sie eine Leistungskürzung.

Angehörige im Extremfall klagen

Dass außerdem vor einem Sozialhilfeanspruch erst alle offenen Unterhaltsforderung gestellt werden müssen, stürze vor allem Frauen und behinderte Menschen in ein Dilemma. "Frauen, die sich aus gewaltvollen Beziehungen gelöst haben, ist es zum Teil unmöglich, mit ihrem Ex-Partner in Verbindung zu treten und Geld einzufordern", erklärt Alev.

Menschen mit Behinderungen, die als nicht selbsterhaltungsfähig eingestuft sind, müssten erst ihre Unterhaltsansprüche gegenüber Eltern oder Kindern geltend machen, im Extremfall bis hin zu einer Klage. Diese Schritte schreckten viele ab.

Letzteres bestätigt eine Studie aus dem Jahr 2020, laut der etwa 30 Prozent aller anspruchsberechtigten Haushalte in ganz Österreich keinen Antrag auf staatliche Unterstützung gestellt hatten. Alev geht davon aus, dass diese sogenannte Non-take-up-Rate in den letzten Jahren weiter gestiegen ist.

"Als würde sie zum Feind gehen"

Für den neuen Bericht hat die Sozialwissenschafterin dutzende Gespräche mit Betroffenen geführt. Viele Sozialhilfebeziehende hätten ihr erzählt, sich alleine gelassen und beschämt zu fühlen: "Eine Frau hat die Antragstellung am Amt so beschrieben, als würde sie zum Feind gehen."

Das sei Ausdruck eines grundsätzlichen Problems: "Sozialhilfe wird von vielen als Almosen angesehen, die Menschen, die diese beantragen, werden zu Bittstellenden gemacht. Dabei geht es hier um eine staatliche Unterstützung, auf die sie ein Recht haben." Amnesty fordert daher eine Neugestaltung der Sozialhilfe, um "allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen", so Alev. (Irene Brickner, 20.2.2024)

In einer ersten Version des Artikels war von 19.000 Sozialhilfebeziehenden die Rede. Richtig sind 190.000. Wir entschuldigen uns für den Fehler.