Katharina Schlüter will ihre Würde und ihre Selbstsicherheit zurück. Als erfolgreiche Moderatorin einer TV-Talkshow ist sie es gewohnt, in der Öffentlichkeit zu stehen, sie war einst eine "strahlende, starke Frau". So wird sie ihr Verteidiger in seinem Plädoyer während des Prozesses beschreiben. Jetzt ist sie mit Shitstorms und sogar Morddrohungen konfrontiert. Ihr Ruf, ihre berufliche Zukunft sind zerstört, ihr Familienleben ebenso.

Warum? Weil sie den erfolgreichen Manager Christian Thiede (Godehard Giese) wegen Vergewaltigung angezeigt hat. Schlüter (Ina Weisse) und Thiede hatten jahrelang eine heimliche Affäre, beide bezeichnen den jeweils anderen als "die Liebe ihres Lebens". Und doch sitzen sie einander jetzt in Ferdinand von Schirachs neuestem TV-Streich "Sie sagt. Er sagt." – zu sehen am Samstag im Hauptabend von ORF 2, am Montag im ZDF und schon jetzt in der ZDF-Mediathek – als Gegner im Gerichtssaal gegenüber.

Aussage gegen Aussage

Nach der Trennung – beide wollten trotz dieser intensiven Beziehung ihre Familien und ihr gewohntes Leben nicht verlassen – kam es nach einer zufälligen Begegnung zum Sex. Schlüter habe Thiede dabei mehrmals gebeten, den Geschlechtsverkehr zu stoppen, Thiede habe jedoch trotz ihrer wiederholten Bitten weitergemacht. Sie sieht eine Vergewaltigung, er bestreitet ihre Schilderung. Es steht also wie so oft Aussage gegen Aussage.

Katharina Schlüter (Ina Weisse) sitzt im Zeugenstand und schildert den Tathergang.
Katharina Schlüter (Ina Weisse) sitzt im Zeugenstand und schildert den Tathergang.
Foto: ORF/ZDF/Julia Terjung

"Ich bin nicht mehr ganz"

Der Jurist und Strafverteidiger von Schirach und Präzisionsregisseur Matti Geschonneck ("Die Wannseekonferenz") schaffen durch das kammerspielartige Setting eine ganz besondere Nähe und Intensität. Das Geschehen spielt sich (fast) nur im Gerichtssaal ab. Rückblenden oder musikalische Untermalung braucht es nicht. Die Bilder entstehen im Kopf, als Schlüter detailliert über ihre Beziehung zu Thiede erzählt, vom Kennenlernen bis zur – aus ihrer Sicht – Vergewaltigung. Ihre Sprache ist ihr Instrument, mit Worten weiß sie sich zu wehren.

Weisse spielt ihre Katharina Schlüter eloquent und stark. Hier sitzt jeder Blick, den sie mit der Richterin (Johanna Gastdorf) oder ihrem Verteidiger Bigler (zynisch, clever, anstrengend: Matthias Brandt) austauscht, hier stimmt jede Geste, ¬jeder Gesichtsausdruck. "Mein Körper wurde wie ein Gegenstand ¬behandelt", sagt sie einmal und: "Ich bin nicht mehr ganz." Man fühlt mit ihr.

Katharina Schlüter (Ina Weisse) und ihr Rechtsanwalt Biegler (Matthias Brandt)
Katharina Schlüter (Ina Weisse) und ihr Rechtsanwalt Biegler (Matthias Brandt)
Foto: ORF/ZDF/Julia Terjung

Nach Schlüters Erzählung im ersten Teil des Films ist man sehr geneigt, dieser Katharina Schlüter und ihrer Version der Wahrheit zu glauben. Ihr Ex-Liebhaber Thiede schweigt bis zum Schluss. Das darf er als Angeklagter. Das sieht die Prozessordnung so vor, er muss sich nicht verteidigen, er muss nichts sagen. Und doch sieht man ihm an, dass ihn ihre Erzählungen nicht kalt lassen. Man spürt seine zunehmende Nervosität und Anspannung. Weitere Puzzlesteine liefern Schlüters beste Freundin (Nicole Marischka), eine Psychologin (Maria Köstlinger), eine Rechtsmedizinerin (Proschat Madani) und ein Taxler (Alexander Hörbe) als Zeuge. Ein rotes Kleid mit Spermaspuren wird auch noch eine große Rolle spielen.

Die Rache der verlassenen Frau

Thiedes Verteidigung übernimmt die junge, ehrgeizige Anwältin Breslau, gespielt von Henriette Confurius. Ihr geht es ums Gewinnen. Auch um ihrer selbst willen und um juristische Lorbeeren. Ist die junge Frau dem selbstverliebten und erfahrenen Anwalt von Schlüter gewachsen? Ja, und wie! Sie macht ihre Sache ausgezeichnet, malt lächelnd, freundlich, wortreich und glaubwürdig das Bild einer verlassenen Frau, die auf Rache sinnt. Dass Thiede später doch reden will, hält sie zunächst für keine gute Idee. Das passt nicht in ihre Strategie. Bis sie merkt, wie glaubhaft er seine Wahrheit zu erzählen vermag.

Strafverteidigerin Breslau (Henriette Confurius) verfolgt den Prozess mit ihrem Mandanten Christian Thiede (Godehard Giese).
Strafverteidigerin Breslau (Henriette Confurius) verfolgt den Prozess mit ihrem Mandanten Christian Thiede (Godehard Giese).
Foto: ORF/ZDF/Julia Terjung

Zwei Seiten, zwei Versionen

Am Ende des Films kennt man die unterschiedlichen Positionen, ist vertraut mit den Versionen beider Seiten. Das Urteil bleibt offen, die Frage nach Schuld oder Unschuld wird den TV-Zuschauerinnen und Zuschauern nicht abgenommen. Wer also sagt die Wahrheit und wer lügt? Das zu beantworten ist nahezu unmöglich nach diesen rund 100 starken TV-Minuten. Zumindest dann nicht, wenn man eigene Vorurteile außen vor lässt.

Beisitzende Richterin (Öykü Sariaslan), Vorsitzende Richterin (Johanna Gastdorf), Beisitzender Richter (Nicos Bliefert).
Beisitzende Richterin (Öykü Sariaslan), Vorsitzende Richterin (Johanna Gastdorf), Beisitzender Richter (Nicos Bliefert).
Foto: ORF/ZDF/Julia Terjung

"Es gibt keine Wahrheit um jeden Preis"

Zur Abstimmung wie bei den früheren Schirach-Events - etwa bei "Gott" über Sterbehilfe oder bei "Terror" über den Abschuss eines Passagierflugzeugs - wird das Publikum diesmal nicht gebeten. Gut so.

"Über die Schuld oder Unschuld eines Menschen wird in einem Rechtsstaat nicht in Zeitungen entschieden, nicht im Fernsehen, nicht in den sozialen Medien und nicht in den Foren des Internets. In einem Strafverfahren versuchen die Richter die Wahrheit herauszufinden", so von Schirach. "Sie hören Zeugen und Sachverständige, sie sehen sich sorgfältig die vorgelegten Beweise an, sie prüfen die Argumente des Staatsanwalts, des Nebenklägers und des Verteidigers. Aber es gibt keine Wahrheit um jeden Preis." (Astrid Ebenführer, 24.2.2024)