Timothy Snyder ist einer der bekanntesten Intellektuellen und zugleich Experte für osteuropäische Geschichte, insbesondere die der Ukraine. Der Professor an der Yale University und Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) berichtete am Montag bei einer Pressekonferenz in Wien von seinen Eindrücken bei der Münchner Sicherheitskonferenz vom vergangenen Wochenende. Auf die Frage, ob er von dieser Veranstaltung im Hinblick auf die defensive Lage der Ukraine und die – ungenügende – Hilfe des Westens optimistisch, pessimistisch oder gar depressiv zurückkomme, antwortete er: "Die Ukraine macht sich ganz gut, indem sie Erfolge allein – auch ohne uns – erzielt. Sie gewinnt zum Beispiel den Krieg im Schwarzen Meer, indem sie die russische Flotte beschädigt und den Weg für die Getreideexporte freihält. Das ist von essenzieller Bedeutung."

Doch abgesehen davon sei es fatal, wenn der Westen sich selbst einredet, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen könne: "Der einzige Weg, wie Russland den Krieg gewinnen kann, ist, wenn der Westen sich selbst einredet, dass Russland gewinnen muss."

Timothy Snyder
Timothy Snyder: "Der Krieg endet, wenn sich auf der russischen Seite etwas ändert."
STANDARD/Regine Hendrich

Kriege würden enden, wenn das politische System einer Seite nicht mehr mitmachen kann oder will. "Die relevante Frage ist nicht, ob die Ukraine weitermachen kann, sondern wie Russland weitermachen kann – wie viel sind die Russen noch bereit einzustecken, wie reagieren sie, wenn es noch weitere Mobilisierungen gibt? Der Krieg endet, wenn sich auf der russischen Seite etwas ändert."

Folgen von Nawalnys Tod

Putin habe der jungen Generation in Russland praktisch alle Möglichkeiten zur Entfaltung genommen – im Unterschied zu den Jungen in der Ukraine. In der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern könnten die Jungen über die Zukunft reden, in Russland reden die Alten nur über die Vergangenheit – oder was sie glauben, dass die Vergangenheit ist: "Es ist ein Generationenkrieg der Alten gegen die Jungen."

Der auf Raten ermordete Alexej Nawalny war ein Symbol dafür, was Russland hätte sein können: ein Land mit sozialer Mobilität, mit weniger Korruption, mit einer europäischen Perspektive. Sein Tod habe gezeigt, "was mit Russland falsch ist". Der Tod Nawalnys werde aktuell keine großen Umwälzungen auslösen. "Aber eines Tages wird das Regime zusammenbrechen – das ist kein Wunschdenken."

Ein zerstörter russischer Panzer.
Ein zerstörter russischer Panzer.
AFP/FADEL SENNA

Allerdings sei es eine Illusion des Westens, zu glauben, man könne Russland von außen wesentlich beeinflussen: "Das haben wir versucht, und es ist gescheitert." Snyder spielt da wohl auf die von US-Beratern wie Jeffrey Sachs empfohlene kapitalistische "Schocktherapie" unter Boris Jelzin an, die zu Chaos führte und Wladimir Putin erst an die Macht brachte. Russland habe seinen eigenen Weg: "Wir verstehen sie nicht." Plötzlich werde es eine andere Situation in Russland geben.

Nur Russland kann sich ändern

"Wir können Russland nicht ändern, das kann es nur selbst", sagt Snyder, um dann doch eine Möglichkeit zu skizzieren: "Wir können nur der Ukraine helfen, den Krieg zu gewinnen. Der Punkt ist, das russische Regime schwach zu machen. Der einzige Weg, wie das Regime brechen kann, besteht darin, den Krieg zu verlieren. Das sagen alle meine russischen Freunde."

Aber was genau bedeutet, "den Krieg zu verlieren"? Gibt es einen Maßstab dafür? Wann weiß man, dass man den Krieg verloren hat? Hier greift Snyder auf die Geschichte zurück: "Die Sowjetunion hat den Krieg in Afghanistan verloren." Eine Folge war Michail Gorbatschow. Oder: "Woher wussten wir, dass wir den Krieg in Vietnam verloren haben?" Das wurde zunächst nicht zugegeben, man wusste es irgendwann einfach. "Du verlierst, wenn das politische System nicht mehr mit dem Krieg weitermachen kann und will."

Aber was ist, wenn in einem Jahr Donald Trump die Wahl gewinnt und sofort die Hilfe für die Ukraine einstellt? Dann ist Europa zwischen zwei rücksichtslosen autoritären Herrschern eingeklemmt. Dem einen ist Europa egal, der andere will es unter seinen Einfluss bringen.

"Zeit erkauft"

"Dafür muss Europa schon jetzt üben", sagt Snyder trocken. "Die Amerikaner werden vielleicht aus Europa weggehen. Ich glaube nicht, dass das passiert, aber Europa darf nicht in den Fehler verfallen, zu denken, alles hängt von den Amerikanern ab. Wir sollten darüber jetzt nachdenken, was wir im Fall des Falles tun." Hätte man der Ukraine schon früher mit entsprechenden Waffen geholfen, wäre der Krieg 2023 zu Ende gewesen.

Die amerikanische öffentliche Meinung sei nach wie vor überwiegend für die Hilfe an die Ukraine – das Problem seien die Republikaner, die nicht nur hinter Trump stehen, sondern überhaupt einer staatsfeindlichen Haltung anhängen: "Ein beachtlicher Haufen von Republikanern ist der Meinung, dass man die Regierung daran hindern sollte, zu regieren."

Dabei hätte der Krieg in der Ukraine den USA geholfen, die "schwierigste Periode mit China zu überwinden". Der energische Widerstand gegen die Besetzung der Ukraine habe China von Ähnlichem gegenüber Taiwan abgehalten – und inzwischen habe China den Höhepunkt seiner Macht überschritten: "Die zwei Jahre Ukraine haben uns Zeit erkauft." (Hans Rauscher, 19.2.2024)

Video: Zwei Jahre Krieg in der Ukraine: "Wir leben mit dem Horror in uns."
AFP