Sie gewinnen regelmäßig und mit Abstand die EU-Wahl, auch bei Kommunalwahlen sind sie meist die Wahlsieger. Und bei der Nationalratswahl 2019 war nur die ÖVP stärker. Trotzdem stellen sie aber keine einzige Abgeordnete, keinen Bürgermeister, sie regieren nicht mit. Die Rede ist von den Nichtwählern.

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Die Gründe für das Nichtwählen sind vielfältig: vom Gefühl, mit seiner Stimme ohnehin nichts bewirken zu können, bis zur kompletten Ablehnung des "Systems". Die Gruppe ist groß und damit sehr heterogen.
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Wer sie sind und warum sie nicht mitstimmen, lässt sich nicht so einfach beschreiben. In den Fokus geraten sie in Wahljahren aber dennoch, immerhin gibt es für die Parteien viel zu holen. 2019 nahmen etwas mehr als 1,5 Millionen Menschen nicht an der Nationalratswahl teil. Aber: Kann man diese Menschen überhaupt noch überzeugen?

Was Corona verändert hat

Mit dieser Frage beschäftigt sich Eva Zeglovits seit vielen Jahren. Die Nichtwähler seien sogar ihr Lieblingsthema, sagt die Politikwissenschafterin und Meinungsforscherin, die das Institut für empirische Sozialforschung (Ifes) leitet. Zeglovits hat Nichtwähler bereits in ihrer Dissertation untersucht. Politisches Desinteresse sei bei weitem nicht der einzige Grund für das Zuhausebleiben. "Es ist auch die Frage, was man unter politikverdrossen überhaupt versteht. Interessiert es die Person nicht, oder hat sie das Gefühl, dass es kein passendes Angebot für sie gibt?"

In den letzten Jahren habe jedenfalls die Ansicht, dass die Politik Probleme sowieso nicht lösen könne, stark zugenommen, sagt Zeglovits. "Wenn eine Krise nach der anderen kommt, meinen viele, dass die Politik ohnehin nichts unternehmen kann. Und andere denken, es wäre möglich, passiere aber nicht." Corona und der Umgang mit der Pandemie seien hier für viele Menschen prägend gewesen.

Eine Nichtwählerin erzählt

Eine von ihnen ist Lucia. Sie ist Anfang 30 und wohnt mit ihrem Mann und drei Kindern auf dem Land. Einmal habe sie gewählt. Mit 16. Vielleicht. Ihr Mann sei aber noch nie zur Wahl gegangen. "Eigentlich ist es verrückt. Weil alle in unserem Freundeskreis wählen, in meiner Familie war das auch immer so. Aber für uns war es einfach nie ein Thema." Das Nichtwählen sei zwar ein gemeinsamer Akt mit ihrem Mann, darüber gesprochen hätten sie allerdings nie. "Das war einfach klar, dass wir nicht gehen."

Dabei habe Lucia vom Umfeld durchaus zu spüren bekommen, dass sie eigentlich wählen sollte. Seit Corona sei das aber definitiv kein Thema mehr, sagt sie. "Wir sind keine Impfgegner und auch keine Impfbefürworter. Wir hören uns alles an, möchten aber gerne nach unseren Vorstellungen leben." Ausgangsbeschränkungen, Maskenpflicht und die Debatte über die Impfpflicht haben bei Lucia das Gefühl hinterlassen, ohnehin nicht gehört zu werden. "Man wählt, und schlussendlich wird ja trotzdem über einen entschieden. Ich glaube nicht, dass sich durch meine Stimme etwas verändert."

Für Zeglovits ist Lucia eine untypische Nichtwählerin. Denn wer im Freundeskreis oder der Familie das Wählen mitbekomme, tue das selbst meist auch. Der Bildungsgrad spiele ebenfalls eine Rolle. Wichtig sei zudem die "soziale Einbettung", also ob man in Vereinen oder anderen Gruppen engagiert ist. "Wählen lebt eben auch von der Gruppendynamik." Menschen, die einsam sind oder keine Möglichkeiten der sozialen Teilhabe haben, seien unter Nichtwählerinnen stärker vertreten, aber auch Menschen mit Migrationsgeschichte oder Junge. "Bei älteren Menschen ist das Gefühl, dass Wählen eine Bürgerpflicht ist, noch viel stärker da", sagt Zeglovits.

Was Parteien tun können

Tendenziell sind im Westen Österreichs mehr Nichtwähler zu Hause als im Osten. Das führen Politikwissenschafter vor allem auf drei Faktoren zurück: mangelnde Mobilisierung der Parteien, weniger Medienwettbewerb und eine emotionale Distanz zur Bundeshauptstadt. Die Parteien konzentrieren sich meist auf die bevölkerungsreichsten Regionen. Umkämpft sind vor allem Gebiete, wo die Vergabe der Grundmandate unklar ist. Der Großteil davon liegt im Osten.

Was können die Parteien nun tun? In Lucias Fall lautet die ernüchternde Antwort: wohl sehr wenig. Sie zählt zu den sogenannten "verfestigten Nichtwählerinnen", die nicht mehr zu mobilisieren sind. "Aber relativ viele Leute wechseln zwischen Wählen und Nichtwählen", sagt Zeglovits. Das zeige etwa der Vergleich zwischen EU- und Nationalratswahl. Die Wahlbeteiligung bei Letzterer sei um einiges höher. "Nichtwählen ist also keine immer gleiche Handlung."

Für die Regierungsparteien sei es sehr schwer, Nichtwähler für sich zu gewinnen. Die Message "Gehen wir diesen erfolgreichen Weg gemeinsam weiter" gehe sich in der derzeitigen Stimmungslage nicht aus. Die Oppositionsparteien wären gut beraten, sich um die Gruppe zu kümmern, meint die Politikwissenschafterin. "Hier sind wohl am meisten Stimmen zu gewinnen. Wer das außer Acht lässt, macht strategisch etwas falsch." Grundsätzlich werde in der Wahlwerbung mit drei Emotionen gearbeitet, sagt Zeglovits: Wut, Angst und Hoffnung. Was man derzeit hauptsächlich sehe, ist das Mobilisieren über Wut: "Die FPÖ ist eine, die hier am geübtesten ist." Die Neos seien hingegen eine Partei, die von Menschen gewählt werde, die der Meinung seien, dass Politik sehr wohl gestaltbar sei. Daher laute das Prinzip hier Hoffnung.

Interessant sind die Nichtwähler natürlich auch für die nichtetablierten Parteien, die dieses Mal antreten. "Denn sie können sagen, wir würden alles ganz anders machen", sagt Zeglovits. Diesen Zugang bedient etwa Dominic Wlazny mit seiner Bierpartei, die er ja "Reformbewegung" nennt. Als Protestpartei sieht man sich selbst dort nicht. "Wir können mit dem Begriff nicht viel anfangen", sagt eine Pressesprecherin auf STANDARD-Anfrage. "Wir sehen bei unseren Versammlungen, dass sich viele wieder der Politik zuwenden, weil sie merken, dass wir nicht über die Menschen, sondern mit den Menschen reden. Viele sagen uns, dass sie uns authentisch und glaubwürdig finden."

Gemischte Vorzeichen

Wie sieht das in Zahlen aus? Laut Wählerstromanalyse haben 141.000 Menschen, die bei der Nationalratswahl 2017 nicht gewählt haben, zwei Jahre später ihre Stimme abgegeben. Die meisten sind damals zur SPÖ gewandert, genauso viele in etwa zu den Grünen und der ÖVP. Schlussendlich lag die Wahlbeteiligung aber mit rund 76 Prozent deutlich unter jener von 2017. Besonders viele FPÖ-Wähler, 235.000, blieben demnach zu Hause. Es war bekanntlich das Ibiza-Jahr.

Die Vorzeichen dafür, dass die Wahlbeteiligung bei der Nationalratswahl wieder steigt, seien laut Zeglovits da. "Es gehen dann viele Leute wählen, wenn man den Eindruck hat, es könnte knapp werden oder es geht um was, also wenn sich beispielsweise zwei sehr unterschiedliche Parteien matchen." Gleichzeitig hat die Expertin aber große Bedenken: "Immer mehr Menschen sagen: Die Demokratie funktioniert nicht. Sie wollen ein anderes System. Dieser weit verbreitete Frust, das ist schon etwas, das mich skeptisch stimmt." (Lara Hagen, 21.2.2024)