Russlands Präsident Wladimir Putin, an einem Tisch sitzend.
"Früher versuchte Putin, die Russen auf seine Seite zu ziehen. Jetzt bleibt ihm nur noch der Terror", sagt Françoise Thom.
AP/Ramil Sitdikov

Die renommierte französische Historikerin Françoise Thom sieht in Russland deutliche Anzeichen einer Palastrevolution. Ihrer Meinung nach wird Präsident Wladimir Putin aber nicht abgelöst, solange die Ostukraine nicht fest in der Hand Russlands ist. Den Tod Alexej Nawalnys sieht sie als Warnung an den Westen.

STANDARD: Welche Bedeutung hat der Tod des Oppositionellen Alexej Nawalny Ihrer Meinung nach?

Thom: Mir kommt sein Tod wie eine Ohrfeige Wladimir Putins an den Westen vor. Für den russischen Präsidenten war Nawalny ein Agent des "kollektiven Westens". Putin schickt diesem Westen ein Signal, das besagen soll: Ich werde bis zum Letzten gehen, und ihr könnt mir nichts anhaben. Es ist aber auch ein Signal an die Russen. Das Regime schwenkt auf den reinen Terror um. Früher versuchte Putin die Russen auf seine Seite zu ziehen, sie mit den Mitteln des Staates zu "kaufen". Jetzt, da der Hauptteil der russischen Ressourcen in den Krieg fließt, bleibt ihm nur noch der Terror.

Video: Russische Polizei löst Nawalny-Mahnwachen mit Gewalt auf.
AFP

STANDARD: Als Regimekritikerin können Sie auch nicht mehr nach Russland reisen. Wie haben Sie Putins Interview mit Tucker Carlson aus der Ferne erlebt?

Thom: Putin ist völlig in seiner paranoiden Logik gefangen – er verteidigte sogar Hitler mit der Behauptung, dieser sei von Polen 1939 zum Einmarsch in ihr Land gezwungen worden. Ziel des Auftritts war es, den US-Kandidaten Donald Trump zu stärken und nach einem Sieg über eine munitions- und waffenlose Ukraine die westlichen Sanktionen loszuwerden. Deshalb gibt er sich verhandlungsbereit. Wobei verhandeln für Putin einzig und allein heißt, die Bedingungen der ukrainischen Kapitulation festzulegen.

STANDARD: Sicher scheint nur, dass Putin im März wiedergewählt wird ...

Thom: Ja, die Gouverneure haben offenbar Anweisung erhalten, seinen Sieg bei etwas mehr als 80 Prozent festzulegen. Die Russen stimmen elektronisch ab, und diese Prozedur dauert drei Tage – da besteht genug Zeit, das gewünschte Ergebnis herzustellen. Zugleich glaube ich allerdings, dass Putins Tage gezählt sind.

STANDARD: Wie das?

Thom: Ich habe den Eindruck, dass wir den Anfang vom Ende seines Regimes erleben. Die Russen sehen, wie sich die Probleme in ihrem Land häufen. Im Staatsapparat denken viele, dass Wladimir Putin das Land gegen die Wand fährt. In Moskau beginnt meines Erachtens langsam die "Entputinisierung". Die Umstände erinnern mich an das Ende Stalins 1953: Schon zu seinen Lebzeiten gab es eine Art verdeckte Entstalinisierung. Auch sonst gibt es Parallelen zum heutigen Regime Putins. Stalin war am Ende seines Lebens so paranoid, dass er einen dritten Weltkrieg vorbereitete; er ließ Intellektuelle und Weltoffene verfolgen, betrieb die Militarisierung der Gesellschaft. Zugleich bereiteten die innersten Machtzirkel 1952 die Entstalinisierung vor. Was sich damals in Moskau abspielte, könnte sich heute wiederholen. Viele Indizien deuten auf die Dämmerung des Putin'schen Regimes hin.

STANDARD: Welche denn?

Thom: Schauen Sie, was bei der Fahrt des Söldners Jewgeni Prigoschin nach Moskau passierte. Da war niemand, der Putin verteidigte. Oder nehmen Sie Waleri Solowej, einen Professor aus dem Machtapparat, der seit langem erklärt, Putin sei schwer krank, und der eine Majestätsbeleidigung nach der anderen begeht. Erstaunlich ist nicht das, sondern dass er weiterhin in Freiheit ist. Er muss von hoher Stelle geschützt sein, sonst hätte er schon längst 20 Jahre Strafkolonie erhalten. Auch der – verhinderte – Präsidentschaftskandidat Boris Nadeschdin hat zweifellos die Rückendeckung eines "Kreml-Turms", wie man die verschiedenen Machtfraktionen in Moskau nennt; sonst hätte er nicht wochenlang an Putins Stuhl sägen können. Sein Programm war eine einzige "Entputinisierung": Es übt offen Kritik am Kurs des Präsidenten, es bezeichnet den Krieg in der Ukraine als Fehler und die Wendung nach Osten und zu China als Katastrophe. Dass Nadeschdin nicht zur Wahl zugelassen wird, zeigt die Angst im Kreml.

STANDARD: Wie könnte denn Putins Ablösung vonstattengehen?

Thom: Im Kreml ändern sich die Machtverhältnisse meist durch Palastrevolutionen. Die Frage ist, wann. Putin wird meiner Meinung nach nicht abgelöst, solange die Ostukraine nicht fest in der Hand Russlands ist. Denn die Nachfolger Putins wollen die Drecksarbeit nicht selber erledigen. Aber wenn das geregelt ist, wird Putin ersetzt, allein schon um Europa zu gefallen und zu versuchen, die Sanktionen zu überwinden.

STANDARD: Hat Putin deshalb ein persönliches Interesse, den Krieg hinauszuzögern?

Thom: Natürlich will er die Ukraine ausmerzen, so wie Stalin mit der Hungerwaffe zwei Generationen der Ukraine vernichtete. Diesbezüglich herrscht in Moskau Konsens. Putin wird in seinem Land nicht kritisiert, weil er Krieg führt, sondern weil er es von Beginn an falsch angepackt und den Auftakt zum Krieg verpatzt hat. Aber der Krieg und die Militarisierung des Landes sichern nebenbei auch seine eigene Stellung.

STANDARD: Glaubt die russische Bevölkerung der permanenten Desinformation, die aus dem Krieg eine "Spezialoperation" macht, aus Wolodymyr Selenskyj einen "Nazi" und aus Russland eine "von außen bedrohte Nation"?

Thom: Ja, ich glaube, die große Masse glaubt das. All jene, die Fernsehen schauen, werden völlig erschlagen von der Propaganda. Die meisten sind überzeugt, dass der Westen Russland zerstören will. Nur eine kleine urbane Elite merkt, dass das pure Lügen sind, Fake News.

STANDARD: Auch Europa ist Putin auf den Leim gegangen. Aus naiver Blindheit?

Thom: Ja, aber aus unterschiedlichen Gründen. In Deutschland gibt es seit dem Vertrag von Rapallo von 1922 eine russophile Lobby. Die Wirtschaft mit Kanzler Schröder an der Spitze blieb es weitere hundert Jahre lang. Zudem vermochte Putin die deutschen Schuldgefühle seit dem Zweiten Weltkrieg sehr gut auszunutzen. In Frankreich waren dagegen eher die Intellektuellen russophil, und zwar aus purem Antiamerikanismus. Dieses Relikt aus der Ära der Parti Communiste Français (KPF) ist immer noch sehr stark. Es wird unterstützt durch Politiker wie Nicolas Sarkozy und genährt durch die russische Propaganda, wonach Frankreich nicht frei ist, sondern abhängig von den USA, wie ihr Pudel.

STANDARD: Hätte ein Wahlsieg von Donald Trump für die Ukraine so verheerende Folgen, wie vielerorts befürchtet wird?

Thom: Wahrscheinlich schon. Europa muss sich beeilen, der Ukraine zu helfen, sich für einen Ausfall der USA zu wappnen. Das Schicksal der Ukraine wird immer mehr von Europa abhängen. Wir müssen erkennen, dass dieser Krieg für uns eine Frage von Leben und Tod ist, politisch gesprochen. Denn wenn sich Russland die Ukraine einverleiben kann, dann hätten wir ein bedrohliches, bis an die Zähne bewaffnetes Russland an unseren Grenzen. Ich glaube nicht, dass Putin das sowjetische Reich wiederherstellen will; ihm schwebt eher ein paneuropäisches Projekt vor, mit Russland als dominierender Macht. Das wäre brandgefährlich.

STANDARD: Wie ist die Wirtschaftslage in Russland?

Thom: Immer schlechter. Dem Land fehlt es an Ausrüstung und Maschinen und im Winter an Generatoren zum Heizen. Russland hat heute eine Kriegswirtschaft, der zivile Sektor wurde geopfert. Das riesige Agrarland produziert – nicht nur weil die Männer an der Front sind – nicht einmal mehr genug Eier; die müssen aus Aserbaidschan importiert werden. Alles in allem geht es der russischen Wirtschaft schlecht, wenn man vom Militärsektor absieht. Wie in Sowjetzeiten.

STANDARD: Putin geht in mancher Hinsicht noch weiter als die Sowjets – er lässt sogar ukrainische Kinder nach Russland deportieren.

Thom: In Russland werden sie dann in "Jugendlager" gesteckt und mit dem russischen Chauvinismus indoktriniert. Diese Kinder müssen also die Sicht des Feindes übernehmen. So war es schon in Tschetschenien: Die Russen machten die Hauptstadt Grosny dem Erdboden gleich – und heute zwingen sie die Tschetschenen, für Russland gegen die Ukraine ins Feld zu ziehen. Man schaue nur ein wenig russisches Fernsehen: Dieser militärisch-aggressive Ton, die Aufrufe, andere Länder zu zerstören und auszulöschen, das ist eigentlich unfassbar. Und doch ist es bittere Realität.

STANDARD: Wie anderswo auch hegen in Österreich gewisse Kreise trotz dieser Kriegsverbrechen eine Affinität zum Putin-Regime. Erstaunt Sie das?

Thom: Diese Haltung hat eine sehr lange Tradition, die bis in die Stalin-Ära zurückreicht. Für die Russen war Wien stets eine Drehscheibe, und das hörte auch 1955 nicht auf, als die russische Besetzung zu Ende ging. Die russische Staatssicherheit des NKWD entwickelte sehr früh eine ganze Reihe von Methoden, um über Österreich an westliche Technologien zu kommen.

STANDARD: Und diese Nähe besteht bis heute?

Thom: Der Kreml zahlt gut, und in einem kleinen Land fällt das ins Gewicht. Das neutrale Österreich hat den Kreml immer interessiert, wie auch die Schweiz oder Finnland. Diese Länder erlaubten im Kalten Krieg auch die Umgehung der US-Spionageabwehr, bis hin zu Parallelimporten.

STANDARD: Letzte Frage: Glauben Sie, dass Putin jemals eine Atomwaffe zünden könnte?

Thom: Ich denke nicht. Putin handelt wie ein Schurke, der angreift, wenn er sich in einer starken Position wähnt, aber letztlich feige und ängstlich ist. Er weiß, dass Nuklearwaffen die rote Linie sind und den Westen zu einer Reaktion zwingen würden. Das will er nicht. (Stefan Brändle aus Paris, 22.2.2024)