Uniformierte Polizisten und ein Streifenwagen stehen nach einem Mord am 7. Mai 2023 auf der Simmeringer Hauptstraße.
Nach Mordalarm auf der Simmeringer Hauptstraße sperrte die Polizei im vergangenen Mai den Tatort ab, was indirekt nun einen Exekutivbeamten vor das Landesgericht für Strafsachen Wien gebracht hat.
APA / EVA MANHART

Wien – "Wir haben neun Monate später zehn Stunden an zwei Tagen über drei Sekunden gesprochen", erklärt der angeklagte Revierinspektor A. am Ende seiner Gerichtsverhandlung um Amtsmissbrauch in seinem Schlusswort. Die drei Sekunden, von denen der 34-Jährige spricht, beziehen sich auf einen Vorfall vom 7. Mai in Wien-Simmering, als ein 20-jähriger Festgenommener eine blutende Rissquetschwunde erlitt, nachdem A. dem Liegenden zweimal fest den Kopf auf den Gehsteig geschlagen hatte. Aus Sicht von Staatsanwältin Anja Oberkofler hat der unbescholtene Polizist damit seine Amtsgewalt missbraucht, Verteidiger Klaus Heintzinger meint dagegen, sein Mandant habe ordnungsgemäß gehandelt.

Am zweiten Verhandlungstag gehen die Emotionen teilweise in die Höhe. So legt der Verteidiger beispielsweise drei Standbilder aus einem Video des TV-Senders Puls 4 vor, die beweisen sollen, dass A. gar nicht an der dokumentierten blutenden Verletzung schuld sei. "Kein Blut, keine Verletzung", argumentiert Heintzinger, dass Sekundenbruchteile nach dem zweiten Aufprall des Kopfes auf dem Asphalt kein Blut zu sehen sei. Im Publikum löst das Unruhe aus, eine Dame erhebt sich und will etwas sagen, setzt sich dann aber wieder.

Verärgerte Staatsanwältin

"Jetzt reicht's dann langsam!", ärgert sich Staatsanwältin Oberkofler und beantragt im Gegenzug die Einholung eines gerichtsmedizinischen Gutachtens, um zu belegen, dass nicht innerhalb von Zehntelsekunden Blut zu strömen beginnt. Privatbeteiligtenvertreter Clemens Lahner äußert sich ebenfalls: "Ich bin kein Mediziner, aber ich kenne den Unterschied zwischen einer Rissquetschwunde und einer Schürfwunde." Und in den medizinischen Befunden sei eindeutig von Ersterer die Schreibe, die Verletzung könne also nicht durch das horizontale Reiben des Kopfes auf dem Asphalt entstanden sein, wie der Verteidiger es darstellen möchte.

Der Schöffensenat unter Vorsitz von Mathias Funk lehnt den Antrag der Anklägerin nach kurzer Beratung ab: Das Beweisthema "kann als bewiesen angesehen werden", begründet der Vorsitzende, für ihn und die Laienrichter ist also klar, dass die Wunde sehr wohl durch den zweimaligen Aufprall verursacht wurde.

Zur Erinnerung: Am Tattag ereignete sich ein Mord in einem Geschäft auf der Simmeringer Hauptstraße, zwei Stunden später wurde der mittlerweile nicht rechtskräftig verurteilte Täter gefasst. Da nicht bekannt war, ob es weitere flüchtige Beteiligte gab, hielt die Exekutive das Gebiet um den Tatort weiter abgesperrt. Ein 20-Jähriger, der zum Bankomaten wollte, fühlte sich dadurch provoziert, dass ein uniformierter Beamter ihn nicht durchließ. Im Gehen soll er seinen Unmut kundgetan haben, was der Polizist als Anstandsverletzung auffasste und ihn wegen dieser Verwaltungsübertretung mit einem Schulterwurf zu Boden brachte.

Verlorenes Gleichgewicht

Der junge Mann wehrte sich, schlussendlich waren ein halbes Dutzend Einsatzkräfte nötig, um ihn in Bauchlage zu fixieren. Beteiligt daran: der Angeklagte, der zwei Stunden zuvor auch als Erster am Mordschauplatz eingetroffen war. Auf den Aufnahmen ist zu sehen, dass er sich auf der linken Seite des Liegenden befindet und mit dem Knie dessen linken Arm fixiert. Als der 20-Jährige den Arm wegziehen will, greift A. ihm auf den Hinterkopf und drückt ihn ruckartig nach unten. Er habe das Gleichgewicht verloren, sagte der Angeklagte am ersten Verhandlungstag. Warum er dann etwa eine Sekunde später ein weiteres Mal den Kopf auf den Gehsteig stößt? Er sei abgerutscht, lautet die Verantwortung.

"Ich wollte ihn nicht verletzen, ich wollte für Sicherheit sorgen!", beteuert der Angeklagte daher erneut in seinem Schlusswort. "Es tut mir leid, dass der Herr verletzt worden ist, das Video sieht schrecklich aus", gesteht der Polizist zwar zu, er habe in dieser Situation aber nicht falsch gehandelt.

"Er wusste, was er tat"

Ganz anders sieht das Oberkofler: "Die Verantwortung mit dem Gleichgewichtsverlust und dem Versehen sind bloße Schutzbehauptungen!", prangert sie in ihrem Schlussplädoyer an. "Das Opfer mag vielleicht kein Sympathieträger sein, aber Polizeibeamte müssen auch in so einer Situation einen kühlen Kopf bewahren", ist sie überzeugt. Der Angeklagte sei geschult und habe bereits sieben Jahre im Dienst hinter sich, "er wusste, was er tat", ist sich Oberkofler sicher. "Die Polizei ist ein unverzichtbarer Teil des Rechtsstaates, aber es ist ein strenger Rahmen anzulegen", sagt die Staatsanwältin auch und fordert eine zum automatischen Amtsverlust führende Freiheitsstrafe von über einem Jahr. "Können Sie es rechtfertigen, dass so ein Polizeibeamter weiter im Einsatz ist?", wendet sie sich an die Schöffen. "Nein", verrät sie ihre Überzeugung.

Verteidiger Heintzinger fordert dagegen einen Freispruch. "Die Polizei ist zum Schutz da. Zum Schutz der Bevölkerung und der Kollegen. Ein Polizist muss sich aber nicht selbst gefährden, er hat auch ein Recht auf Selbstschutz", argumentiert er. Die Situation nach dem Mord sei noch immer unklar gewesen, theoretisch hätte der Verletzte auch eine Waffe mitführen können. Die Handlungen von Revierinspektor A. seien "das einzig vernünftige Verhalten", beharrt der Rechtsvertreter.

Unbehagen durch Videoaufnahmen

Nach rund einer Dreiviertelstunde Beratung verkündet der Senat sein Urteil: Der Angeklagte wird vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs freigesprochen und auch nicht wegen Körperverletzung verurteilt. "Es gibt Videoeinstellungen, die wild aussehen und Unbehagen auslösen", gibt Vorsitzender Funk zwar zu. Aber: Einen wissentlichen Befugnismissbrauch, die Voraussetzung für einen Amtsmissbrauch, habe A. nicht begangen. "Er wollte den Widerstand brechen und das Opfer nicht verletzen oder schikanieren", begründet der Vorsitzende. Er geht in dieser Begründung zwar auf den ersten Aufprall ein und glaubt dem Angeklagten offenbar, dass er leicht vornübergekippt sei und sich so nur fixiert hat. Den ganz offensichtlich absichtlichen zweiten Stoß erwähnt der Vorsitzende aber nicht.

Zu prüfen sei auch eine Körperverletzung durch unverhältnismäßige Gewaltanwendung gewesen. "Das ist tatsächlich ein Grenzfall", billigt Funk zu, in einer so dynamischen Situation habe der Angeklagte tatsächlich aber nur zweieinhalb oder drei Sekunden für eine Reaktion Zeit gehabt. Es sei "unglücklich und bedauerlich", aber "gerade noch vertretbar" gewesen, begründet Funk den Freispruch.

Turbulentes Verhandlungsende

Dann wird es turbulent: Bevor sie eine Rechtsmittelerklärung abgibt, stellt die Staatsanwältin einen Befangenheitsantrag gegen den Senat und besonders den Vorsitzenden. Ihr Verdacht: Da Funk seine Begründung abgelesen habe, habe er das Urteil bereits vor der Beratung mit den Laienrichtern geschrieben und sei daher voreingenommen gewesen. Praktische Auswirkungen hat das nicht: Über einen derartigen Antrag muss der Senat nur entscheiden, wenn er vor den Schlussvorträgen gestellt wird. Der Vorsitzende ärgert sich jedenfalls und sagt, es sei seine Sache, wie er ein Urteil verkünde, und weist darauf hin, dass er ja auch mehrere Urteilsvarianten geschrieben haben könnte. Außerdem behauptet Funk, entgegen der Ansicht des Vorsitzenden könne ohnehin kein Schuldspruch gefällt werden, was aber einen Schöffensenat ziemlich sinnlos machen würde.

Oberkofler meldet jedenfalls unter anderem wegen der möglichen Befangenheit Nichtigkeit und Berufung an, das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. "Das war eine Farce!", kommentiert ein Zuseher beim Verlassen des vollen Verhandlungssaals das Verfahren noch. (Michael Möseneder, 21.2.2024)