Soziale Netzwerke wie Tiktok haben großen Einfluss auf unsere Sprache und damit unseren Alltag.
REUTERS/DADO RUVIC

Mein noch eher kurzes Leben hat mir an noch wenigen Stellen die Möglichkeit gegeben, mich so richtig alt zu fühlen. Anfang, Mitte zwanzig habe ich an den meisten Tagen noch das Gefühl, ein aktiver Teilnehmer des medien- und popkulturellen Geschehens zu sein, der seine Umwelt zumindest halbwegs verstehen kann. Meine oft unfreiwilligen Berührungspunkte mit Tiktok haben mir gezeigt, dass dem nicht so ist. Es gibt Begriffe, die ich auf den ersten, zweiten und oft sogar dritten Blick einfach nicht in einen sinnvollen Kontext setzen kann. Nachdem ich an einer unermüdlichen Neugierde leide und manchmal wie ein Diskont-Dr.-Faust alles wissen können muss, möchte ich an dieser Stelle die Ergebnisse meiner sehr unwissenschaftlichen Forschung darlegen.

Unalive

"to unalive" (Verb) – Umschreibung für Mord, Suizid

Die Spur der Wortherkunft "unalive" führt lange vor die Zeit der tragbaren Handys und einer "Always on"-Mentalität, nämlich in die Welt der Comicbuchliteratur. Der selbsternannte "Merc with a Mouth" Deadpool hat der Welt der Popkultur in seiner langen Karriere einiges geschenkt. Jahre bevor Ryan Reynolds verschmitzt von der Kinoleinwand blinzelte, steckten die Verkaufszahlen der Comicreihe tief im Mittelmaß fest, weshalb die Figur von den Comicautoren eine charakterliche 180-Grad-Drehung verpasst bekam.

Der ehemals bierernste Söldner wurde zur die vierte Wand brechenden Gagmaschine umgepolt. Im Zuge dieser charakterlichen Veränderung entwickelte die Comicfigur eine unerklärliche Aversion gegen das Wort "kill". Von dem Zeitpunkt an nur noch mit K-Wort abgekürzt oder schöner mit "to unalive" umschrieben, ist dieser sprachliche Quirk ein wichtiger Teil des Charakters Deadpool. Jahre später wird es jetzt, wie alle der folgenden Begriffe, auf elegante Weise verwendet, um diverse Sprachfilter auf Plattformen zu umschiffen.

Corn

"corn" (Nomen) – Porn(-ografie)

Acht Jahre ist es her, seitdem der weltweit größte Pornografie-Bereitsteller Pornhub in die Trickkiste der halblustigen Wortwitze gegriffen hat. In einer Parodie der in der Hitze des Gefechts oft falsch eingegeben Variationen des Webseitennamens wurde die Seite am ersten April 2016 in "cornhub.com" umbenannt. Diese Kampagne hat offenbar einen so festen Halt in der Psyche der Menschen erlangt, dass noch immer auf verschiedensten Stellen im Internet nach Eingabe des Mais-Emoji🌽 nicht jugendfreier Inhalt geliefert wird.

Grape

"grape" (Nomen) – lautmalerische Veränderung von "rape"

Thematisch nahe beim letzten Beispiel dient auch hier ein Lebensmittel zur Umschreibung von etwas gänzlich anderem. "Grape" oder hin und wieder sogar "gr*pe" wird auf den verschiedensten Plattformen verwendet, um den Diskurs über Vergewaltigungen zu ermöglichen. Die unzensierte Version hat zum Beispiel auf Youtube zur Folge, dass das Video nur mehr für eingeschränkte oder für gar keine Monetisierung freigegeben ist. Das Wort "grape" wurde nur aufgrund der ähnlichen Aussprache gewählt. Nicht nur Betroffene verwenden allerdings diesen Ausdruck, auch gänzlich negativer Diskurs wird mit diesem Wort geführt. Die beiden Herren im unteren Beispiel beschuldigen etwa die Opfer sexueller Gewalt, Lügen zu verbreiten.

Der antifeministische Podcast "Fresh&Fit" wurde im Schlepptau von Andrew Tate populär.
Screenshot YouTube Shorts

Mascara

"mascara" (Nomen) – vielfältig einsetzbar für Partnerpersonen, sexuellen Missbrauch oder auch die eigenen Genitalien

In meiner Recherche konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen, wer als Erster den Begriff für Wimperntusche mit sexuellen Handlungen in Verbindung gebracht hat. Es hat jedoch einen regelrechten Mascara-Trend auf Tiktok ausgelöst, in dem die User über eine Vielfalt von positiven sexuellen und romantischen Erlebnissen bis zu Trauma-Erfahrungen mit dem Begriff Mascara sprechen. Nicht verwunderlich, dass das an mancher Stelle für Verwirrung sorgte. Kanye West Ex-Freundin Julia Fox musste einen Shitstorm über sich ergehen lassen, nachdem sie sich über die vermeintliche Wimperntusche eines Tiktok-Nutzers lustig gemacht hatte. Einen vergleichsweise unbeschwerten Eintrag machte die Autorin Sophie Passmann, in dem sie über erfundene Freunde spricht:

Accountant

"accountant" (Nomen) – Bezeichnung für Personen, die Sexualdienstleistungen anbieten

Die amerikanischen Buchhalter haben eine ziemlich normale Aufteilung von 60 Prozent männlich und 40 Prozent weiblichen Berufstätigen. Ist man auf Apps wie Tiktok unterwegs, möchte man meinen, dass Buchhaltung eine ähnliche demografische Verteilung hat wie Flugbegleiterinnen in den 1960er-Jahren. Nach Klick auf das Profil einer Zahlenschieberin wird man schnell eines Besseren belehrt. "Accountant" dient diversen Erotikdienstleistern, sich mit anderen im Feld über ihren Beruf und die Branche auszutauschen. Im unteren Beispiel spricht die Userin über die Problematik während Familienfeiern, über ihren Beruf lügen zu müssen.

🍉

🍉 – Code für die palästinensische Flagge / Palästina

Der Nahostkonflikt zeigt noch viel mehr als der Ukrainekrieg, wie sehr die Digitalisierung in der Kriegsführung angekommen ist. Noch nie waren so viele Informationen von so vielen ungeprüften Stellen auf sozialen Medien abrufbar. Ein Clip des Videospiels "Arma 3" wurde zum Beispiel als echtes Filmmaterial ausgegeben und konnte eine Vielzahl von Menschen täuschen. Die wenigen fundierten Informationsquellen müssen mit "shadowbans", Entfernung des Accounts aus den Feeds anderer, und anderen Limitierungen zurechtkommen. Eine Art, wie diese Sperrungen umgangen worden, ist etwa die Einführung des Wassermelonen-Emojis als eines Codes für Palästina. Die Farbkombination Rot, Grün und Schwarz in Fruchtfleisch, Haut und Kernen soll für die korrespondierenden Farben in der Flagge stehen.

Ein Protestierender mit einer palästinensischen Flagge vor dem fruchtigen Symbol des Widerstands.
IMAGO/Carlos Garcia Granthon

Fazit

Ich hoffe, ich konnte mit diesem kleinen Überblick in die Sprachschatztruhe rund um Tiktok und andere soziale Medien das Internet ein Stück weit verständlicher machen. Bei keinem anderen meiner Texte erwarte ich, dass er so schnell wieder an Aktualität verliert wie dieser hier, aber genau das macht es aktuell so interessant. In dieser Sekunde werden zahlreiche neue Wortkreationen erfunden, die alle das Potenzial haben, in unseren Sprachgebrauch einzufließen, ob online oder offline. Also schauen wir, mit welchen Wörtern wir uns in ein paar Jahren unterhalten werden. Ich beobachte weiter gespannt. (gld, 24.2.2024)