In Großbritannien bestimmt wieder einmal die Außenpolitik den innenpolitischen Schlagabtausch, und wie so häufig geht es dabei um ein früheres Kolonialterritorium. Am Mittwochabend wollte das Unterhaus über Forderungen abstimmen, wonach die konservative Regierung von Premier Rishi Sunak öffentlich für den Waffenstillstand im Gazakrieg eintreten solle. Doch diese Abstimmung endete im Chaos.

Parlamentspräsident Lindsey Hoyle, vor seiner Wahl zum formell unabhängigen "Speaker" Labour-Abgeordneter, ließ nämlich neben einem Beschlussantrag der Regierung auch einen Änderungsantrag der Sozialdemokraten zu, um einen Entwurf der Schottischen Nationalpartei (SNP) abzuändern. Dies galt deshalb als kontrovers, weil sich die beiden Entwürfe inhaltlich kaum unterscheiden und der im Unterhaus bestimmenden Parlamentstradition nach nur jener der Regierung auszuwählen wäre.

Großproteste in London, aber auch kritische Worte von Thronfolger Prinz William lassen die britische Regierung zunehmend Druck für einen Waffenstillstand machen.
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Die SNP-Abgeordneten und Tories verließen aufgebracht den Sitzungssaal, viele forderten den Rücktritt Hoyles. Zuvor hatte innerhalb der Labour Party ein Sinneswandel stattgefunden. Sie plädiert nun für ein "sofortiges und humanitäres" Ende der Feindseligkeiten. In den Umfragen für die Unterhauswahl in diesem Jahr liegt Labour seit zwei Jahren mit großem Abstand vor der Regierungspartei. Umso mehr hat Oppositionsführer Keir Starmer in der Außenpolitik versucht, sich von der Anti-US-Haltung seines Vorgängers Jeremy Corbyn abzugrenzen.

Nach den Hamas-Massenmorden vom 7. Oktober und der seither andauernden blutigen Offensive Israels im Gazastreifen probte Starmer den Schulterschluss mit dem demokratischen Präsidenten Joe Biden in Washington sowie weitgehend mit der Londoner Regierung.

Unruhe bei Labour

Das brachte Labour scharfe Kritik aus den eigenen Reihen ein und stieß viele der rund vier Millionen Muslime auf der Insel vor den Kopf, die bisher ganz überwiegend der alten Arbeiterpartei zuneigten. Diesen Konflikt versuchen andere Parteien, allen voran die schlingernde SNP, für ihre Zwecke auszunutzen. Eine von der SNP angezettelte Gaza-Abstimmung führte schon im November zu einer Rebellion von knapp 60 Abgeordneten, fast ein Drittel der Unterhausfraktion, gegen Starmers Linie. Genau das wollte Starmer mit dem umstrittenen Antrag, den Hoyle schließlich zur Abstimmung zuließ, diesmal verhindern. Das verlief insofern positiv, als zum Zeitpunkt der Abstimmung fast nur noch Labour-Abgeordnete im Raum waren, die diesen Antrag dann annahmen.

Auch die Debatte und Abstimmung an diesem Mittwoch war auf eine SNP-Initiative zurückgegangen; weil deren Umfragewerte in Schottland dramatisch zugunsten von Labour gefallen sind, richtet sich das Verhalten der Nationalisten im Unterhaus inzwischen vor allem gegen die größte Oppositionspartei und weniger gegen die Regierung. Diese gilt in London als ohnehin dem Untergang geweiht. Der größte Unterschied zwischen der SNP-Formulierung von einem "sofortigen" Waffenstillstand und Labours "sofortigem humanitärem" Ende der Kampfhandlungen ist eine zusätzliche SNP-Forderung, nämlich nach einem "Ende der Kollektivbestrafung der Palästinenser". Hingegen macht Labours Antrag explizit deutlich, die Hamas trage Verantwortung für die Freilassung der Geiseln und müsse den dauernden Beschuss Israels beenden.

Starmer und seine Schattenminister für Äußeres und Verteidigung, David Lammy und John Healey, hatten den Kurswechsel am vergangenen Wochenende auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit den Verbündeten besprochen und zu Wochenbeginn vom Schattenkabinett absegnen lassen.

Der Thronfolger macht Politik

Bestärkt wird die Opposition indirekt vom Thronfolger: "Zu viele sind getötet worden", hieß es am Dienstag in einem Statement von Prinz William, bevor dieser dem Roten Kreuz einen Besuch abstattete und per Videokonferenz mit Helfern im Gazastreifen sprach. "So früh wie möglich" sollte dem Sterben ein Ende bereitet werden. Mit dieser Art von Rhetorik dürfte auch die Regierung einverstanden sein; ohnehin müssen alle politischen Äußerungen der Royals mit dem Foreign Office oder der Downing Street abgesprochen werden. Außenminister David Cameron hat zuletzt die geplante israelische Rafah-Offensive sehr kritisch beurteilt, spricht zudem von Völkerrechtsverletzungen im Westjordanland, wo die extrem rechte Regierung von Benjamin Netanjahu extremistische Siedler gewähren lässt.

Prinz William zeigte sich bei seinem Besuch beim Roten Kreuz in London von den Schilderungen aus Gaza bestürzt.
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Der Gegenantrag der Regierung im Unterhaus sprach am Mittwoch von einer "sofortigen humanitären Pause" für die Kampfhandlungen; dadurch sollten die laufenden Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas nicht gefährdet werden, lautete die Begründung. Bei der jüngsten Abstimmung im UN-Sicherheitsrat enthielt sich die Vetomacht Großbritannien der Stimme.

Erst vergangene Woche hatte sich herausgestellt, dass seit Oktober eine Welle von Antisemitismus über Großbritannien schwappt. Zudem setzen propalästinensische Aktivisten einzelne Politiker durch Demonstrationen vor Wahlkreisbüros und Privathäusern unter Druck. Wer nicht uneingeschränkt dem sofortigen Kriegsende das Wort redet, wird als "Kriegsverbrecher" und "mitschuldig am Völkermord" denunziert. (Sebastian Borger aus London, 21.2.2024, Mitarbeit: Manuel Escher)