Zeigefinger
Ist es der moralische Zeigefinger, der jegliche Diskussion sofort im Keim erstickt?
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Ungeachtet der vielen Tausend Corona-Toten ist der Covid-19-Erreger in den Augen mancher Unverdrossener ein biederes, eher harmloses Virus. Die Epidemie, an der unsere Gesellschaft seither krankt, lautet auf den Namen "Moralitis".

Unter ihr versteht der in Berlin ansässige Polemiker (und Philosoph) Michael Andrick ein schlimmes Ansteckungsgeschehen. Ihm zufolge soll unsere ganze Gesellschaft einer neuartigen Form totalitärer Gefährdung ausgesetzt sein: einem kollektiven Überwältigtsein, ausgelöst durch gutmenschliches Mundtotmachen.

Man könnte die drohende Gefahr, ungeachtet ihrer Übertragung, auch als akuten Spaltpilz bezeichnen. Dessen Symptome bestehen, zum Beispiel, im gehäuften Auftreten gendersensibler Bezeichnungen. "Moralitis" zeigt sich gerne mit dem Beiwort "akut". Sie bildet mit unschöner Regelmäßigkeit eine Tröpfcheninfektion, angeblich übertragen durch Schaum vor dem Mund.

Schrille Farben

Ihren diagnostischen Niederschlag findet die neuartige Pandemie in einer Schrift wie Andricks Großessay Im Moralgefängnis. Halb Sudelbuch, soll der Traktat zugleich auch die philosophische Herleitung des von ihm beargwöhnten Missstandes besorgen. Dieser meint das Zipperlein aller Rechtschaffenen, die gut zu sein meinen – und doch nur Böses im Schilde führen.

Als Doktor des von ihm angezeigten Übelstands gibt Andrick – er schreibt regelmäßig für die Berliner Zeitung oder den Freitag – das Bild des Großhygienikers ab. Er malt die von ihm erkannten Missstände in schrillen Plakatfarben an die Wand. Worum es geht? Kaum hätten geängstigte Bürgerinnen und Bürger ihr Unbehagen an den verordneten Impfregelungen artikuliert, wären sie geächtet worden. Tief wäre das Gift der Zwietracht in die schimpflich beackerten Brauchtumsböden gesickert.

Der größte Übelstand: Überall wären seit 2020, also etwa seit Auftritt des Covid-19-Virus, die "Spaltenden" am Werk. Spalterisch handelt, wer die Kommunikationswege mit dem Moralvirus infiziert. Nicht die Moral sei schlechthin von Übel, so Andrick. Er meint die "moralisierende" Umdeutung gewöhnlicher Äußerungen. Sie passiert stets zuungunsten derer, die sie, unschuldig wie der junge Tag, haben verlauten lassen.

Weltumspannendes Komplott

Nun bleibt Andrick, wiewohl Philosoph, auf 160 Seiten den Beweis für ein solches Komplott der Ruchlosen schuldig. Immerhin geht es dem, der die ethische Grundlegung einer politischen Maßnahme offenlegt, nicht zwangsläufig darum, sein Gegenüber zu ächten. Das "Gemeinwohl" steht keineswegs im Gegensatz zur Moral. Deren Aushandlung gehört zu den dringenden Aufgaben jeder Gesellschaft. Das Zustandekommen einer solchen Moral, der Prozess ihrer Einsetzung, muss dem Licht einer demokratischen Öffentlichkeit ausgesetzt werden. Erst dann hält sie abwägender Prüfung stand.

Michael Andrick
Michael Andrick ist der Diskursphilosoph der angeblich grollenden Mehrheit.
IMAGO/Matthias Reichelt

Moral ist daher nichts, was von Verschwörern in stickigen Hinterzimmern ausbaldowert wird, um ihretwegen ein paar Querdenker am Nasenring durch die Arena zu zerren und an den Pranger zu stellen. Michael Andrick sieht hingegen allerlei Regime des Moralismus, in gleichmäßiger Verquickung, mitsammen am Werk.

Dunkel beargwöhnt wird ein weltumspannendes Komplott. Andersdenkende würden moralisch in Acht und Bann getan, Meinungskorridore würden immer enger verbaut. Gezüchtet würden Kontaktschuldner. Gemeint ist der Umgang mit Schmuddelkindern aus der rechten Ecke. Planmäßig geschürt, entstünden massive Äußerungsängste.

Das Geschäft der Gleichstellungsbeauftragten

Das "Moralvirus" ähnelt einem Gift, ähnlich wohl der sattsam bekannten Moralinsäure. Wer sich seiner sudelnd bediene, verlerne, so Andrick, nicht nur die Kunst des Streitens. Ein solcher Moralisierer kanzelt im Vorhinein ab. Er übt sich, von Andrick etwas unelegant ausgedrückt, in der Untugend des "Umstrittenmachens". Überall seien Gesinnungsprüfer am Werk. Nur welcher Art die Gesinnungen sind, darüber gibt Andrick keine sachdienlichen Hinweise.

Es verwundert wenig, dass es am Ende ausgerechnet die Gleichstellungsbeauftragten sein sollen, die die Ansteckung mit Moralitis als ihr schnödes Geschäft betreiben. Der Zaster, den sie einstreichen, soll in Deutschland aus dem Regierungssäckel stammen.

"Demokratiefördergesetz"? Das Binnen-i, der Unterstrich? Der Hinweis auf die Empfindlichkeiten queerer Menschen? Die Forderung nach Sichtbarmachung von People of Color? Hinter solchen ungustiösen Machenschaften kann nur die gemeinsame Willensanstrengung von Verbänden und Parteien stehen. Ob Rot, Grün, Gelb oder Schwarz, die Handelnden lassen sich, wie Andrick insinuiert, mit freiem Auge kaum mehr voneinander unterscheiden.

Ideenwettkampf?

Am Ende aller demokratischen Tage bilden Regierende und Regierte gemeinsam eine "regierungsamtliche Glaubensgemeinschaft". Zu dieser im Kontrast steht ein Sammelsurium aufrechter Bürgerinnen und Bürger. Letztere eint der Streit, den Andrick ausdrücklich gutheißt: ein fröhlicher Wettkampf der Ideen. Als ob Letztere wie bunt schillernde Schmetterlinge über Deutschlands Hain und Fluren dahinsegeln würden. Es ist schon ein großer Zufall, wenn es ausgerechnet Mitglieder der AfD sind, die die prächtigsten Exemplare mit ihren braunen Netzen einfangen.

Die "westliche Immunschwäche", wie Andrick das angebliche Krankheitsgeschehen nennt, treibt seltsame Blüten. Diese sehen den Früchten der guten, alten Paranoia beinahe zum Verwechseln ähnlich. (Ronald Pohl, 22.2.2024)