Obgleich einst von einem ehemaligen Wiener Bürgermeister als "Zeit fokussierter Unintelligenz" bezeichnet, erfüllt der Wahlkampf, zumindest der Theorie nach, eine wichtige Funktion in repräsentativen Demokratien. Insbesondere für diejenigen, die das politische Geschehen in Zwischenwahlphasen weniger intensiv verfolgen, bietet er die Möglichkeit, in geballter Form Informationen über die zur Wahl stehenden Parteien zu erhalten und eine Wahlentscheidung zu treffen, die den persönlichen Präferenzen bestmöglich entspricht.

Wahlplakate der Kandidaten zur Präsidentschaftswahl 2022, geklebt auf in allen Gemeinden aufgestellten Stellwänden, Frankreich
Wie auch der französische Wahlkampf vor zwei Jahren gezeigt hat, trifft in solchen Zeiten politisches Informationsbedürfnis auf strategische Kommunikation. Was bedeutet das für die Demokratie?
IMAGO/Peter Seyfferth

Doch ist nicht jede Art des Wahlkampfes gleichermaßen geeignet, um Wählerinnen und Wähler zu informieren. Selbst wer nur am Rande an Wahlkämpfen interessiert ist, merkt schnell: Politikerinnen und Politiker kommunizieren strategisch, indem sie gezielt einzelne Themen vermeiden und inhaltliche Positionen verwischen. Dass dadurch für eine Wahlentscheidung potenziell relevante Informationen vorenthalten werden, ist nicht nur ein Problem für Wählerinnen und Wähler, sondern auch eine Herausforderung für die repräsentative Demokratie selbst.

Erwartungen an den Wahlkampf: Zwischen Sollen und Sein

Verfolgt man den Gedanken, dass sich die Qualität eines Wahlkampfes anhand dessen Informationsgehalt für die Wahlbevölkerung bestimmen lässt, so muss man als nächstes festlegen, woran sich dieser Informationsgehalt bemisst. In einem idealen Szenario trifft eine Person ihre Wahlentscheidung zuerst nach Prioritäten bezüglich Themen und, darauf aufbauend, nach Präferenzen bezüglich Positionierungen.

Damit eine vollständig informierte Wahlentscheidung getroffen werden kann, ist es also notwendig, dass die Positionen aller Parteien zu jedem wichtigen Thema zur Verfügung stehen und insbesondere in Zeiten des Wahlkampfes sichtbar werden. Denn nur dann ist es möglich, sie mit den eigenen Präferenzen tatsächlich zu vergleichen. Dieser Vergleich bedarf folglich einer Ausgewogenheit in der Themenlandschaft eines Wahlkampfes in dem Sinne, dass die wahlwerbenden Parteien sich zu jedem relevanten Thema in ungefähr gleichem Ausmaß äußern. Ein solches Verhalten von Parteien wird in der Politikwissenschaft "issue engagement" genannt.

Es geht nicht nur um Information

Politikerinnen und Politiker geben sich jedoch kaum damit zufrieden, die Wählerschaft "nur" zu informieren. Sie wollen Menschen für ihre Themen mobilisieren und von ihren Positionen überzeugen, um letztlich politische Ämter besetzen und ihre politischen Vorstellungen umsetzen zu können. Dementsprechend ist zu erwarten, dass Parteien ihr Kommunikationsverhalten im Wahlkampf danach ausrichten, die Wahl zu gewinnen beziehungsweise ihren eigenen Stimmenanteil zu maximieren.

Dies gelingt vor allem dann, wenn sie mit "ihren" Themen, also Politikbereichen, bei denen ihnen eine besondere Kompetenz zugesprochen wird, die Agenda des jeweiligen Wahlkampfes in der breiten Öffentlichkeit und den Medien dominieren. Dementsprechend reden sozialdemokratische Parteien gerne über Verteilungsgerechtigkeit, grüne Parteien über Klimaschutz und rechtspopulistische Parteien über Migration. Mit Themen, die nicht zu den eigenen Haus- und Hofthemen zählen, wird umgekehrt hingegen "gefremdelt", was sich in schwammigen Positionierungen, Absprache von Relevanz oder genereller Vermeidung manifestiert.

Die Folge dieser Logik ist, dass in Wahlkämpfen wohl nicht "issue engagement" (=Themenaustausch) sondern "issue avoidance" (=Themenvermeidung) dominiert, was wiederum weniger verfügbare Informationen für die Wählerinnen und Wähler bedeutet. Wenn einem Wähler Migrationspolitik ein wichtiges Anliegen ist, wie soll er eine Wahl treffen, wenn links stehende Parteien sich hier nicht klar positionieren? Welche wirtschaftspolitischen Interventionen kann umgekehrt eine Wählerin, die sich um steigende Lebenshaltungskosten sorgt, von einer rechtspopulistischen Partei erwarten, wenn diese das Thema zugunsten der Problematisierung von Migration nicht ausführlich behandelt? Im Unterschied zu parteiübergreifendem Dialog führen solche "duellierenden Monologe" im Wahlkampf eher zu halbinformierten Wahlentscheidungen, was die Übersetzung des "eigentlichen" Willens der Bevölkerung in konkretes politisches Handeln empfindlich beeinträchtigen kann.

Twitter-Kampagne der französischen Präsidentschaftswahl 2022

Licht auf die Frage, ob die oben skizzierte Theorie einer empirischen Prüfung standhält, lässt sich werfen, indem man die Themenlandschaft eines Wahlkampfes als Fallstudie untersucht und sich darauf fokussiert, wie häufig und unter welchen Umständen politische Akteurinnen und Akteure (nicht) über dieselben Themen sprechen. Zu diesem Zweck analysierte ich im Rahmen meiner Masterarbeit insgesamt 6.199 Tweets der acht wichtigsten Kandidatinnen und Kandidaten der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl 2022, die auf Basis ihres Inhalts verschiedenen Themenbereichen zugeordnet wurden. Dadurch ergab sich ein dynamisches Bild des Wahlkampfes beginnend mit 1. Jänner 2022 bis zum Wahltag am 10. April 2022.

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Anzahl von Tweets pro Tag nach Thema. Während im Winter 2022 die Corona-Pandemie noch für viele Tweets zum Thema Gesundheit sorgte, nahm die Bedeutung dieses Themas bis zum Wahltag schrittweise ab. Die Invasion Russlands in die Ukraine sorgte von Ende Februar bis März für viele Tweets zum Thema Außenpolitik.
Valentin Voith

Durch die Berechnung der relativen Anteile der Tweets pro Thema für jeden Kandidierenden über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg, erkennt man deutlich, wie sich die ideologischen Lager im Hinblick auf ihre Schwerpunktthemen voneinander unterschieden. Die Kandidierenden links der Mitte, Fabien Roussel, Jean-Luc Mélenchon, Yannick Jadot und Anne Hidalgo setzten vor allem auf die Themen Lebenshaltungskosten, Gesundheit sowie Umweltschutz und sprachen wenig über Migration und Sicherheit. Letztere Themen wurden dafür vermehrt von den rechts bis weit rechts stehenden Kandidatinnen, Valérie Pécresse und Marine Le Pen, sowie von Rechtsaußen-Kandidat Éric Zemmour aufgegriffen, die umgekehrt nur wenige Tweets dem Thema Umweltschutz widmeten. Emmanuel Macron als Kandidat des Zentrums hielt sich wiederum bei den stark ideologisch konnotierten Themen zurück und griff vermehrt typische Kernthemen liberaler Parteien wie Wirtschaft und Bildung auf.

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Relativer Anteil an Tweets pro Kandidat und Kandidatin nach Themen. Je dunkler das Rot, desto höher der Anteil an Tweets, den der oder die jeweilige Kandidierende dem entsprechenden Thema gewidmet hat. Die Kandidierenden sind entsprechend ihrer ideologischen Position von links nach rechts angeordnet.
Valentin Voith

Diese nach ideologischen Linien entstandenen thematischen Cluster liefern ein Indiz dafür, dass in gewissen Politikfeldern tatsächlich kaum lagerübergreifender Austausch stattfindet und damit nur jeweils eine Positionierung je Thema diskursiv wirklich präsent ist. Daraus ist zu schließen, dass Wählern und Wählerinnen in manchen Bereichen keine oder substantiell weniger Informationen zur Verfügung stehen, die sie in ihre Entscheidung miteinbeziehen können.

Vermeidung genau dort, wo Austausch wichtig wäre

Doch damit nicht genug. Untersucht man im Detail welche Faktoren dazu führten, dass die Kandidierenden über dieselben Themen diskutierten beziehungsweise im konkreten Fall über dieselben Themen twitterten, zeigt sich, dass es genau dann seltener zu "issue engagement" kommt, wenn dieses am dringendsten benötigt werden würde. So adressierten am ideologischen Spektrum weit voneinander entfernte Kandidatinnen und Kandidaten weniger häufig dasselbe Thema, wobei gerade hier das Sichtbarwerden unterschiedlicher Zugänge für die Bevölkerung eine wichtige Grundlage für eine informierte Wahlentscheidung darstellen würde.

Hinzu kommt, dass die thematische Selbstbezogenheit sowohl des linken als auch des rechten Lagers gerade bei einem augenscheinlich knappen Rennen um den Wahlsieg noch stärker ausgeprägt zu sein schien. Eine "Duell-Situation" insbesondere zwischen ideologisch entgegengesetzten Parteien, bei der der einzelnen Stimme eine besonders gewichtige Rolle zukommt, führt also womöglich zu einer Verringerung des thematischen Austauschs und damit zu noch weniger verfügbaren Informationen für die Wählerschaft.

Diese generelle Tendenz, thematische Überschneidungen im Wahlkampf zu vermeiden, wird auch nicht zwangsläufig dadurch abgemildert, dass alle Parteien ihr Kommunikationsverhalten an der jeweils vorherrschenden Themenkonjunktur orientieren und zumindest jene Themen gemeinsam diskutieren, welche die Bevölkerung als besonders wichtig erachtet. Vielmehr suggerieren die Ergebnisse, dass hauptsächlich dann auf thematische Prioritäten der Bevölkerung durch vermehrte Behandlung im Wahlkampf reagiert wurde, wenn diese zum ideologischen Profil der jeweiligen Partei passten und das Aufgreifen der entsprechenden Themen daher strategisch vorteilhaft erschien.

Selbst die Tatsache, dass es mit dem Herannahen des Wahltages zu einer allgemeinen Zunahme thematisch deckungsgleicher Tweets kam, ist, bei genauerem Nachdenken, nicht uneingeschränkt wünschenswert. Dies impliziert nämlich, dass die Informationsdichte im Wahlkampf ihren Höhepunkt dann erreicht, wenn bereits viele Wählerinnen und Wähler ihre Entscheidung getroffen haben.

Fernsehdebatten, Bürgerforen und Interviews

Sind politische Parteien oder auch einzelne Politikerinnen und Politiker in ihrem Kommunikationsverhalten während eines Wahlkampfes völlig uneingeschränkt, neigen sie vornehmlich dazu, auf ihre thematischen Steckenpferde zu setzen und Ausflüge in fremdes Terrain zu vermeiden. Deshalb weiß die Wählerschaft vor allem, wie linke Umverteilungspolitik, rechtspopulistische Migrationspolitik, konservative Wirtschaftspolitik, oder grüne Umweltpolitik aussehen. Bei darüberhinausgehenden Positionierungen, die einen echten parteiübergreifenden Vergleich ermöglichen würden, tappt sie hingegen häufig im Dunkeln. Im Grunde führt dies zu einer Wahlentscheidung, die sich hauptsächlich aus thematischen Prioritäten speist, aber nicht aus Unterschieden in programmatischen Positionierungen zu den jeweils gleichen Themen.

Die Tatsache, dass das strategische Handeln politischer Parteien im Widerspruch zu dem steht, was aus Sicht der Wählerinnen und Wähler wünschenswert wäre, betont die Wichtigkeit von "traditionellen" Settings, wie Fernsehdebatten, Interviews oder Bürgerforen. Deren Qualität besteht gerade darin, dass politische Akteurinnen und Akteure, anders als auf Twitter, nicht völlig frei entscheiden können, welche Themen sie adressieren.

In einer Interview-Situation haben Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit das Gespräch gerade auf jene Themen zu lenken, welche die jeweiligen Politikerinnen und Politiker gerne vermeiden, und ihnen bei programmatischen Leerstellen eine Positionierung abzuverlangen. Genauso zeichnen sich qualitätsvolle Demokratien dadurch aus, dass sich Politikerinnen und Politiker Formaten stellen, in denen sie der Bevölkerung selbst zu allen relevanten Themen Rede und Antwort stehen müssen. Auch gut moderierte Debatten, die dazu bewegen inhaltlich aufeinander einzugehen und strategische Ausweichmanöver erschweren, sind Formate, die es der Wahlbevölkerung erlauben, Kandidierende über verschiedene Themen hinweg miteinander zu vergleichen.

Durch das Einfordern und Hinterfragen von Antworten hat eine kritische Öffentlichkeit, vor allem auch vertreten durch eine unabhängige und vielfältige Medienlandschaft, das zentrale Mittel in der Hand, Bürgerinnen und Bürgern eine informierte Wahlentscheidung zu ermöglichen. Nicht zuletzt deshalb ist hier die Rede von der "vierten Gewalt", welcher die Verantwortung zukommt, in Zeiten des Wahlkampfs einen intensiven Austausch inhaltlicher Positionierungen zu befördern und insbesondere themenspezifische Vermeidungsstrategien durch kritisches Nachfragen nicht zuzulassen. Die Qualität des Wahlkampfs ist letztlich entscheidend für das Funktionieren der Demokratie. Schließlich kann die Wahl immer nur so gut sein wie der Wahlkampf, der ihr vorangeht. (Valentin Voith, 1.3.2024)