Reinhard Kleindl.
Schriftsteller, Redakteur – und Extremsportler: Reinhard Kleindl.
Tina Reiter

Die Zeitreisendenparty war Tradition bei der für das Knacken von Codes zuständigen Abteilung des britischen Geheimdienstes. Ort und Zeit unterlagen strengster Geheimhaltung und waren nur den Organisatoren bekannt, einer kleinen Gruppe von Nerds innerhalb des Dienstes. Sie hatten in den starren Strukturen, die noch aus Kriegszeiten stammten und für Kriegszeiten gemacht waren, kein leichtes Leben. Viele von ihnen waren auf verworrenen Wegen hierhergekommen, manche waren nicht ganz freiwillig hier und hatten eines dieser sprichwörtlichen Angebote bekommen, die man nicht ablehnen kann.

Manche waren in einem früheren Leben Hacker mit einem starken Faible für anarchistisches Gedankengut gewesen, einer hatte sich beim Hacken von Regierungsseiten erwischen lassen, wo statt des Logos des britischen Oberhauses plötzlich ein pixeliges Einhorn über den Bildschirm der offiziellen Website geflogen war – mit einem Regenbogenschweif aus seinem After. Danach hatte es geheißen: Gefängnis oder ein Job beim Geheimdienst. Wenige überlegten lange. Doch sie sehnten sich neben den Geheimdienstveteranen – ernsten, undurchsichtigen Gestalten ohne echtes Privatleben – nach der verlorenen Freiheit.

Die Zeitreisendenparty war eine der wenigen Gesten des Aufbegehrens, die sie sich zugestanden. Zwar war ihnen die Ausrichtung mehrmals explizit verboten worden, doch sie wussten, dass diese Aktivität stillschweigend geduldet wurde. Dieses Jahr befanden sie sich im Bletchley Park in der Nähe von Milton Keynes, knapp fünfzig Kilometer nordöstlich von Oxford, und die Party nahm zusehends Fahrt auf.

Colossus

Als Ort dieses Treffens hatten sie sich für eine Baracke aus dem Zweiten Weltkrieg entschieden, in der in den letzten Kriegsjahren ein Team um den Mathematiker Alan Turing die Codes der Nazis geknackt hatte. Heute war die Stätte ein Museum, und der Block H, in dem sie sich befanden, enthielt neben der originalen Rechenmaschine Turings, die liebevoll "Bombe" genannt worden war, auch einen auf Elektronenröhren basierenden Computer, der den treffenden Namen "Colossus" trug. Der Ort war nicht zufällig ausgewählt. Die Menschen, die hier über den Codes der Nazis gebrütet hatten, waren ihre direkten Vorgänger gewesen. Sie identifizierten sich mit Alan Turing, der einst direkt Winston Churchill angeschrieben hatte, um freie Hand und unbegrenzte Mittel für seine Arbeit zu erhalten. Nebenbei fanden sie hier nach Ende der offiziellen Öffnungszeiten die Ruhe, die sie benötigten.

Aus Nebengebäuden hatten sie zwanzig Stühle und zwei Tische herbeigeschafft, um die mitgebrachten Getränke darauf zu platzieren. Eine gute internationale Auswahl verschiedener Alkoholika, denn niemand wusste, aus welchem Land oder welchem Zeitalter die Gäste zu ihnen kommen würden. Es war genug da, um zwanzig Leute in gute Stimmung zu versetzen.

Obwohl nur die Hälfte der Stühle besetzt war und zehn Gläser unberührt blieben, wurde die Stimmung immer ausgelassener. Auch Nerds konnten trinken, wenn der Anlass es erforderte. Die geladenen Gäste waren nicht gekommen, doch das war jedes Jahr so, und irgendwer musste die Flaschen schließlich leertrinken.

Cover
Reinhard Kleindl, "Chaoscode". Thriller. € 13,40 / 384 Seiten. Lübbe-Verlag, München 2024. Erscheint am 29. Februar.
Lübbe

Dreiunddreißig Schläge

Das Fehlen der Gäste war eine einkalkulierte Enttäuschung, die sich jedes Jahr wiederholte. Sie wussten, dass die Chance eines Erfolgs ziemlich gering war. Das war auch so gewesen, als der legendäre Physiker Stephen Hawking erstmals eine derartige Zeitreisendenparty veranstaltet hatte. Er hatte sich an einem willkürlich gewählten Ort zu einer willkürlich gewählten Zeit hingesetzt und gewartet. Erst nach dem Ende der "Party" hatte er die Einladung verschickt. So wollte er sicherstellen, dass nur Gäste kamen, die tatsächlich die Zukunft kannten und vorab wussten, dass er am Ende die Einladung verschicken würde. Seit dem Tod Hawkings wiederholten sie das Experiment jedes Jahr und stießen als Höhepunkt der Veranstaltung auf den großen Physiker an.

Als die Getränke langsam zur Neige gingen und ein Kollege lachend von seinem Sessel kippte, beschlossen sie, die Party zu beenden. Sie waren gerade im Begriff, sich an das Formulieren der Einladung zu machen, als ein Donnern sie zusammenzucken ließ. Sie hielten inne und lauschten. Das Geräusch schien von überallher gekommen zu sein, die ganze Baracke hatte gebebt. Da war es wieder, zweimal, dreimal. Die Blicke richteten sich zum Eingang. Nun war es klarer zu vernehmen gewesen: Jemand hämmerte an die Tür.

Nach dreiunddreißig Schlägen verstummte das Geräusch. Stille senkte sich über die Baracke mit den riesigen Rechenmaschinen. Es war Mikaela von der Quantencomputer-Gruppe, die als Erste aus ihrer Starre erwachte. Sie schlich zur Tür hin und lauschte kurz, bevor sie den Riegel zurückschob und öffnete. Doch draußen war nur die Dunkelheit des Parks.

Sie fanden den Toten hinter der Baracke. In seiner Hand hielt er einen USB-Stick. (Reinhard Kleindl, 25.2.2024)