Michael Hausenblas.
Die Zeit, der Mensch und die Welt: Michael Hausenblas.
Nathan Murrell

Abends suchte Held sein Stammcafé um die Ecke auf. Von Montag bis Freitag. Im Café, einem kleinen Lokal, trank er zwei Achtel vom weißen Hauswein aus der Doppelliter-Flasche. Zwei. Niemals eines und niemals drei.

Man sieht, Held war ein Mann der Rituale. Sie bestimmten sein Leben. Sie bildeten die Gitterstäbe eines Käfigs, in dem er auf- und abging, ohne sich dessen bewusst zu sein. Gefangen von Zahlen, Ziffern, Zahnrädern und stetig Wiederkehrendem. Das Leben des Hans Held verlief, abgesehen von den Ausflügen mit seinen Büchern, wie die Drehungen eines Uhrzeigers. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Jahr für Jahr. Aus diesem Kreislauf schien es für ihn kein Entkommen zu geben. Ohne es zu merken, war Held von all dem müde geworden. Müde vor der Zeit. Müde von der Zeit.

Des Pudels Kern

Bis eines Tages, die Uhr zeigte fünf Minuten vor Ladenschluss um achtzehn Uhr, eine gepflegte, betagte und äußerst klein gewachsene Dame das Geschäft in Begleitung eines graumelierten, altersschwachen Pudels betrat. Der war kaum größer als ein Lämmchen und müffelte.

Held kannte die Frau vom Sehen. Sie war ihm des Öfteren auf seinem Rückweg vom Mittagstisch ins Auge gestochen. Mit kleinen Schritten ging sie, leicht gekrümmt durch den Ansatz eines Buckels, von Zeit zu Zeit zu den Mönchen eines naheliegenden Klosters, um diesen Kuchen zu bringen. Zumindest vermutete der Uhrmacher, in dem Päckchen in ihrem Einkaufsnetz würde sich Kuchen befinden. Neugierde zählte durchaus zu den wenigen Eigenschaften des Hans Held.

Michael Hausenblas, "Der Uhrmacher und das Flüstern der Zeit". Roman. € 22,– / 176 Seiten. Braumüller-Verlag, Wien 2024. Erscheint am 1. März
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So freundlich es ihm möglich war, brachte er ein "Grüß’ Sie" heraus und fragte die Frau, wie er ihr zu Diensten sein könne. Das Weiblein, das ihre schlohweißen Haare zu einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengesteckt hatte, kramte etwas, das in ein seidenes Tuch gewickelt war, aus ihrer Tasche. Sie stellte es auf den Ladentisch und packte behutsam den Inhalt aus. Held hob die Augenbrauen, wie er es stets tat, wenn ihm etwas suspekt vorkam.

Sein Blick fiel auf eine Sanduhr. Der Sand in ihrem Inneren glänzte schwarz und schimmerte ein wenig bläulich. Ein bisschen wie die Federn eines Raben. Die Körner rieselten, nachdem die Frau das Ding umgedreht hatte, flink und einer undurchschaubaren Ordnung folgend, durch die enge Stelle zwischen den beiden wohlgerundeten Glasbehältern. Das Licht der Deckenleuchte spiegelte sich warm darin.

Vertrauensvorschuss

"Sie wissen schon, dass ich Uhrmacher bin", sagte Held, schob seine Brille auf die Nasenspitze, blickte über deren Rand und biss sich sanft auf die Unterlippe, um eine schnippische Bemerkung zu unterdrücken.

"Aber natürlich, mein Herr", entgegnete die Dame mit gütig klingender Stimme. "Und hierbei handelt es sich um eine Sanduhr, also eine Uhr, oder? Wo sonst soll ich mit ihr hin, wenn nicht zum Uhrmacher? Hören Sie, irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Ich bitte Sie. Werfen Sie in aller Ruhe einen Blick auf das Stück. Ich setze großes Vertrauen in Sie. Die Angelegenheit hat auch keine Eile. Ich habe alle Zeit der Welt." Beinahe zärtlich faltete sie das Seidentuch zusammen, steckte es in ihre Handtasche aus Krokodilleder und lächelte, wodurch sich Grübchen in einem kleinen Meer aus Runzeln in ihrem Gesicht abzeichneten. Das Türglöckchen bimmelte abermals, und die Greisin verschwand gleich einem zierlichen, liebenswürdigen Gespenst samt ihrem Hund auf der Gasse.

Hans Held blickte an die Decke und murrte: "Noch so eine Verrückte! Vielleicht bringt mir morgen ein Armleuchter eine Sonnenuhr zur Reparatur. Und überhaupt, was heißt, sie hat alle Zeit der Welt? Woher will sie wissen, über wie viel Zeit die Welt verfügt? Und was soll mit der Uhr nicht stimmen? Geht sie vor? Oder nach?"

Selbstgespräche

Hans Held neigte zum Selbstgespräch, was ihm keineswegs auffiel. Der Uhrmacher redete im Laufe eines Tages mehr mit sich als mit irgendjemand anderem. Man könnte auch sagen, er dachte laut. Der Sand war zur Gänze durchgerieselt. Held drehte die Uhr um und hielt den Kopf schief, nachdem er einen überaus kleinen Zettel bemerkte, der auf der Unterseite der Sanduhr klebte. Darauf stand etwas in winzigen Buchstaben geschrieben.

Held griff zu seiner Uhrmacherlupe und las: "Wie viele Sandkörner es wohl sein mögen? Hat der Sanduhrmacher sie gezählt? Wofür stehen sie? Für Zeit? Für Vergänglichkeit? Für die Sterne? Für Liebesnächte, Tränen, geleerte Weingläser, gerauchte Zigaretten, Sorgen oder Atemzüge? Finden die Augenblicke, so wichtig oder unbedeutend sie auch erscheinen mögen, Platz in einer Sanduhr? Die Sandkörner fragen nicht, ob sie rieseln sollen. Wie viel Sand wird noch durch deine Lebensuhr rinnen? Bedenke, diese lässt sich nicht umdrehen. Den Körnern ist es egal. Nicht einmal das." Held verdrehte die Augen und murmelte, "Ich sag’s ja‚ noch eine Verrückte." (Michael Hausenblas, 24.2.2024)