Ruinen
Von der Fabrikhalle in Odessa bleiben nur noch Ruinen übrig.
AFP/OLEKSANDR GIMANOV

Eine Zeitlang war Richard David Precht zum "deutschen Nationalpyschologen" (Alexander Kissler) avanciert. An die Stelle des Klischees vom verkopften und unverständlichen Universitätsprofessor für Philosophie trat ein neues Image: jenes des gutaussehenden und lockeren Populärphilosophen.

Da er sich in seinen populärwissenschaftlichen Bestsellern, in Podcasts und Talkshows über fast jedes Thema dieses Universums zu Wort meldete, durfte der Ukrainekrieg in seiner Sammlung nicht fehlen. Für den Pazifisten Precht habe zwar die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, aber auch "die Pflicht zur Klugheit, einzusehen, wenn man sich ergeben muss".

Sinnloser Widerstand?

Precht glaubte zu diesem Zeitpunkt genau zu wissen, dass die Ukraine den Krieg bereits verloren habe und Widerstand daher "sinnlos" sei (Juni 2022; später gab er kleinlaut zu, sich geirrt zu haben). Man dürfe Putin nicht dämonisieren, Russland sei eine "gedemütigte Großmacht", die Ukraine "ein korrupter Oligarchenstaat" – damit ließ sich der legitime Verteidigungskrieg der Ukraine schön relativieren. Dazu eine Dosis Gefühl. Nach den russischen Bomben auf ukrainische Wohngebiete war er "unsagbar traurig".

Mit philosophischen Analysen hatten diese Wortmeldungen wenig zu tun. Sie waren eine Mischung aus persönlichen Befindlichkeiten, dem Versuch geopolitischer und militärstrategischer Analysen (wohl mit fehlender Kompetenz) und dem Bemühen, angesichts russischer Aggression und Kriegsverbrechen ein Stück Pazifismus der Sorte "Frieden um jeden Preis" zu retten.

Das ängstliche Denken

Bettina Stangneth fiel mit dem ausgezeichneten Buch Eichmann vor Jerusalem (2014) auf. In ihrem Essay "Überforderung – Putin und die Deutschen" ist Stangneth enttäuscht von den Deutschen, die es trotz der Hilfe der westlichen Alliierten nicht geschafft hätten, politisch erwachsen zu werden.

Die Reaktion der Deutschen auf die Aggression Putins war laut Stangneth zaghaft, ängstlich, orientierungslos, verwirrend, inkompetent und "peinlich". "Das ängstliche Denken, das die Deutschen lernten, half in erster Linie ihnen selbst. Es ist ein Denken der Abwehr, das Ringen um Stabilität um jeden Preis." Stangneths Essay versucht zu erklären, warum diese ängstliche oder furchtsame Denkweise dominant geworden sei.

Ernsthafte Zweifel

Ich habe ernsthafte Zweifel an ihrer Beschreibung der deutschen Nationalpsyche, an der Behauptung, dass es so etwas wie eine "deutsche DNA" gebe, die angeblich "sogar in Zugewanderten wirkt". Was sind die Belege dafür? Wie kann man sie beschreiben, ohne zu verallgemeinern und auf Klischees zurückzugreifen? Ist es wirklich plausibel, die zögerliche deutsche Außenpolitik nach dem Februar 2022 mithilfe der Vergangenheit zu erklären? Stangneth schweigt zum Völkerrecht und auch zu Putins Regime im Sinne einer politischen Analyse.

Jürgen Habermas äußerte sich in zwei längeren Zeitungsartikeln zum Thema. Er versuchte, einen Mittelweg zu finden zwischen dem Lager der radikalen Pazifisten ("Frieden um jeden Preis"), den gemäßigten Pazifisten und den "Falken". Die Texte enthalten daher mehrere "Ja, aber". Ja, die westliche Unterstützung für die Ukraine, das Opfer der russischen Aggression, sei gerechtfertigt. Aber diese Unterstützung impliziere auch "eine Mitverantwortung für den weiteren Verlauf des Krieges". Deshalb solle nicht nur die ukrainische Regierung entscheiden, wann Verhandlungen aufgenommen würden.

Habermas macht sich Sorgen

Habermas macht sich Sorgen wegen der Gefahr einer Eskalation des Krieges, die durch westliche Waffenlieferungen (mit)verursacht werden könnten. Er lehnt den (angeblich) "bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung" in Deutschland ab. Seine beiden Texte sind wohl der wertvollste philosophische Beitrag in deutscher Sprache zum Krieg.

Der italienische Jurist Alberico Gentili schrieb im 16. Jahrhundert sinngemäß: "Theologen, schweigt über Dinge, die außerhalb eurer Kompetenz liegen." Dies richtete sich gegen die Moraltheologie und ihre Übergriffe auf den Bereich der entstehenden genuin juristischen Völkerrechtslehren. "Liebe Philosophinnen und Philosophen, schweigt bitte über Themen, die außerhalb eures Fachgebietes liegen", wäre der leicht abgewandelte Rat für die Gegenwart. Weder Precht noch Stangneth halten sich an ihn. Das unterscheidet sie auch von Habermas, der als Philosoph bei der Philosophie bleibt: beim von Kant geprägten philosophischen Völkerrecht und bei der Philosophie internationaler Beziehungen.

"Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety." Dieses Zitat von Benjamin Franklin bietet weiterhin genügend Anregungen zu philosophischen Debatten über den Ukrainekrieg. (Georg Cavallar, 24.2.2024)