Schriftsteller Doron Rabinovici (62) über den Antisemitismus heute: Er konstatiert totalitäre Attitüden.
Schriftsteller Doron Rabinovici (62) über den Antisemitismus heute: Er konstatiert totalitäre Attitüden.
EPA/RONALD WITTEK

Zuletzt verbrachte der Wiener Autor Doron Rabinovici Recherchezeit in Israel: dem Land, in dem er 1961 zur Welt kam. Er bereiste die Orte des Massakers vom 7. Oktober 2023 – und bezieht unermüdlich Stellung gegen alle diejenigen, die Israel als "siedlerkolonialen Apartheidstaat" einseitig geißeln. Rabinovici zeigt sich vom menschlichen Leid auch in Gaza tief betroffen. Und konstatiert dennoch das Anwachsen eines neuen Antisemitismus, der dem unsäglichen "alten" in vielerlei Hinsicht ähnelt. Wir baten ihn um eine Aufschlüsselung der diversen Erscheinungsformen.

1. Binäre Feindbilder

"Antisemitismus kommt gerade nach dem 7. Oktober im kulturellen Feld vor. Dort unterliegt er den Diskursbedingungen des wechselseitigen Verdachts. Gemeint ist damit, dass das Gesagte mit dem Gemeinten nicht übereinstimmt. Wurde früher behauptet: Der Jude ist der andere, so ist es heute stets nur der andere, der ein Antisemit ist.

Folgt man der Logik einer BDS-Apologetin wie der US-Philosophin Judith Butler, fällt Parteilichkeit leicht. Sie lehnt Donald Trump ab. Trump wird vom Ku-Klux-Klan, von Kanye West und Elon Musk unterstützt. Gemeinsam mit Viktor Orbán ist er überdies ein Freund von Benjamin Netanjahu. Deshalb muss, nach ihrer Meinung, wer gegen Trump ist, automatisch gegen Netanjahu sein und ganz Israel boykottieren. Das Autoritäre, das einem in einer solchen Weltsicht entgegenschlägt, ist reinster Manichäismus, der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis."

2. Die linke Misere

"Solche Vereinfachungen haben in Teilen der dogmatischen Linken Tradition. Für sie gab es immer schon nur den einen Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Nebenwidersprüche werden nicht zur Kenntnis genommen.

Wenn ich der Meinung bin, dass Israel nichts anderes ist als ein kolonialistischer Siedlerstaat, muss ich die Geschichte Israels seit Bestehen ausblenden. Die Zionisten fuhren aber nicht nach Palästina, um Araber auszubeuten oder um besonders gute Orangen für den Export zu züchten. Sie flohen vor Pogrom und Vernichtung. Ein Großteil dessen, was Israel heute ausmacht, stammt nicht aus Europa, sondern aus arabischen Ländern.

Der Krieg im Nahen Osten unterscheidet sich von allen anderen in einem entscheidenden Punkt. Schießt man dort, sind es jüdische Einrichtungen und Personen bei uns, die getroffen werden. Es verhält sich dabei eben anders als im Ukrainekrieg. Russische oder ukrainische Einrichtungen bedürfen keiner besonderen Schutzmechanismen."

3. Die doppelte Buchführung

"Die Existenz Israels – jene des Staates, doch auch jene des Volkes im biblischen Sinne – wird seit jeher in Zweifel gezogen und abgestritten. Darum, und wegen des Vernichtungsantisemitismus, gibt es den Staat Israel. Wird dieser angegriffen, fällt das wieder auf das Volk zurück. Schon allein deshalb ist eine Boykottbewegung gegen Israel nicht gleichzusetzen mit dem Boykott irgendeines anderen Staates, dem man Unrecht vorwirft.

Sämtliche Kulturveranstaltungen, die im jüdischen Feld stattfinden und kritisch sein wollen, kommen nicht umhin, sich um die Mitwirkung jüdischer Künstler und Wissenschafter zu bemühen. Die schärfste Kritik gegen Israel wird in Israel artikuliert. Jeder Israel-Boykott muss von einer jüdischen Gemeinde daher als antisemitisch empfunden werden.

Sehr häufig enden Demonstrationen, die mit dem Slogan ,Israel hinaus aus dem Libanon, Israel hinaus aus Gaza!‘ begonnen haben, mit dem Ruf ,Juden raus!‘ vor der Synagoge. Es gibt einen Konnex, und der schlug jüngst in Berlin auf. Aus Anlass einer Hannah-Arendt-Lesung wurde eine Mitwirkende, Mirjam Wenzel, die Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, mit antizionistischen Hassreden eingedeckt (,Shame on you‘). Sie wurde nicht gefragt, was sie mit dieser oder jener Aussage gemeint haben könnte. Es genügte vollauf, dass sie sich nicht eindeutig antizionistisch deklarierte."

4. Traum vom Globalen Süden

"Nicht wenige Linke glauben, in Ermangelung eines eigenen revolutionären Subjekts, im Globalen Süden den Hoffnungsträger gefunden zu haben. Jemand wie Judith Butler vertrat schon seit 2006 die Ansicht, die Hamas sei eine progressive Bewegung. Das ist absurd.

Innerhalb des linken Feldes fällt es vielen schwer, universalistische und partikularistische Prinzipien zugleich zu denken. Mir scheint interessant, dass viele nicht klar zwischen Antisemitismus und Rassismus unterscheiden können. Viele sind der Überzeugung, sie könnten gar nicht antisemitisch sein, da sie doch Antirassisten sind! Auf den Punkt gebracht hat das unfreiwillig US-Schauspielerin Susan Sarandon auf einer Demo nach dem 7. Oktober. Jetzt würden die Juden einmal erleben, wie es für Muslime sei, in den USA zu leben!

Sarandon hat dabei übersehen, dass die Juden aufgrund ihrer Geschichte sehr genau wissen, was Diskriminierung ist. Rassismus ist die Legitimierung sozialen Unrechts durch Biologie. Rassismus will zuvörderst diskriminieren, und das kann bis zum Tod führen. Antisemitismus hingegen braucht den Juden gar nicht, um ihn zu hassen. Der Antisemit zielt direkt auf die Auslöschung alles Jüdischen, was auch zur Diskriminierung führen kann."

5. Der Zwang, sich zu verhalten

"Allein der Name, wenn er jüdisch oder israelisch klingt, kann zu Reaktionen führen. Bist du Funktionsträger, musst du dich verhalten. Man gerät in Verdacht. Wenn man eine prononciert antizionistische Position einnimmt wie Deborah Feldman, geht es. Es ist nur unmöglich, neutral zu sein. Ich kann zum Beispiel nicht Doron Rabinovici heißen und sagen: Egal, was in Nahost passiert, mein eigentliches Thema lautet Adalbert Stifter! Egal, was ich schreibe, es wird immer ein jüdischer Text bleiben."

6. Fehlende Empathie

"Nach dem 7. Oktober war das Fehlen der Empathie auffällig – in einer Situation großer Eindeutigkeit, in der man sagen konnte: Hier ist etwas Schreckliches passiert, das in seiner Absicht genozidal war. Es schien schwer vermittelbar, dass man in einer solchen Situation nichts relativieren sollte. Man denke an Slavoj Žižeks Rede auf der Frankfurter Buchmesse. Es war, als hielte einer am Grab eines Freundes statt der Trauerrede einen essayistischen Vortrag über die Vorzüge des Todes.

Wir konnten auch bei Masha Gessen merkwürdige Relativierungen lesen. Sie setzte Gaza mit dem Warschauer Nazighetto gleich, als wären die Israelis die Nazis von heute, die Hamas die jüdischen Partisanen von heute." (Ronald Pohl, 24.2.2024)