Russische Kriegspropaganda ist auf der seit 2014 besetzten Krim allgegenwärtig. Hier wird an den Weltkrieg erinnert.
Angerer Joachim

Anreise zur Halbinsel Krim, völkerrechtlich betrachtet ukrainisches Staatsgebiet. Heute aber russisch, umkämpft. Es wäre so einfach: Simferopol hat einen hochmodernen Flughafen, ein kurzer Flug aus Moskau. Doch der ist gesperrt, es ist Krieg.

Stattdessen über 27 Stunden mit dem Zug, über Woronesch, Rostow am Don und die Krim-Brücke, mehrfach von ukrainischen Truppen angegriffen. Vor der Überfahrt wird die Unterseite des Zuges kontrolliert. Terroranschläge sind nicht auszuschließen.

Zerrissene Familien

Die junge Frau im Abteil erzählt, sie arbeite in Moskau, fahre jetzt zurück auf die Krim, wo sie lebe. Es sei ein "Bruderkrieg", meint Alexander, Rechtsanwalt aus Moskau, im Speisewagen. "Meine Verwandten leben in der Ukraine. Die Familie ist zerrissen. Sie reden nicht mehr miteinander."

Zerrissene Familien, es ist auch der Alltag in Simferopol, der Hauptstadt der "Republik Krim". "Ich bin mit meinem Leben heute sehr zufrieden", meint Alexej, 42 Jahre alt, gegenüber dem STANDARD. Er ist verheiratet, hat drei Kinder, wohnt in einem Vorort von Simferopol. In der Ukraine habe er zahlreiche Verwandte, erzählt Alexej, doch die hätten seit Kriegsbeginn jeden Kontakt mit ihm und seiner Familie abgebrochen. "Ich habe gar nichts gegen Ukrainer, ich spreche auch Ukrainisch, sehe mich aber selbst als Russe – als Teil der russischen Welt."

Alltag auf der Krim

Simferopol wirkt mittlerweile wie eine ganz normale russische Stadt. An die frühere Zeit erinnert nur wenig. Sogar Straßen wurden umbenannt. Es gibt eine Fußgängerzone, in den Geschäften und Supermärkten ist alles vorhanden. Die Restaurants, die Kaffeehäuser und die Bars in der Stadt sind abends gut mit Kundschaft gefüllt. Alltag. Nur wenige russische Soldaten sind zu sehen, ab und zu dröhnen in der Ferne die Motoren von Militärflugzeugen. "Es ist ruhig hier", sagt ein junger Mann auf der Straße. "Wir spüren hier vom Krieg nichts."

Auf Bussen und Plakatwänden wird für die Präsidentschaftswahlen im März geworben. Auch auf der seit 2014 annektierten Krim wird gewählt. Ende Februar jährt sich der Einmarsch russischer Truppen zum zehnten Mal. Der Einmarsch jener "grünen Männer" in Uniformen ohne Hoheitsabzeichen. Russische Truppen auf der Krim? Präsident Wladimir Putin leugnete das damals lange, heute erinnert ein Denkmal an die "grünen Männer". Es ist mit Blumen geschmückt. Wladimir Putin ist allgegenwärtig in Simferopol. Zu sehen ist er auf einem Wandgemälde, sein Name steht auf einem schon verblichenen Plakat vor der prächtig restaurierten Alexander-Newski-Kathedrale. "Der Wiederaufbau dieser Kirche erfolgte durch den russischen Präsidenten W. W. Putin", kann man da lesen.

Früher leichter

Über den Krieg, die Annexion sprechen die Menschen in der Stadt nur ungern. Zurück zur Ukraine? Politisch nahezu undenkbar. Aber darüber reden? Die Marktfrau an ihrem Stand preist ihr Obst und Gemüse an. Doch mehr will sie nicht erzählen. Der 76-jährige Sergej ist da gesprächiger. "Natürlich war es vorher besser, weil Frieden war. Jetzt ist Krieg. Eigentlich sollten wir friedlich miteinander leben. Es ist schlimm, dass unsere russischen Soldaten sterben", sagt er dem STANDARD. Und, so ergänzt er: "Es ist nicht ungefährlich, zu sagen, was man denkt, das war früher leichter. Jetzt ist Krieg – und man muss sehr aufpassen, was man sagt. Vorher gab es mehr Freiheit, zu sagen, was man denkt." Wirtschaftlich gehe es ihm besser als früher, erzählt Sergej. Rund 200 Euro Rente hat er jetzt im Monat. Früher, als die Krim noch ukrainisch war, sei es wesentlich weniger gewesen.

Viele der Krim-Bewohner haben ukrainische und russische Wurzel. Ob die Krim nun ukrainisch ist oder russisch, Politik spielt kaum eine Rolle für den 35-jährigen Maxim. Seit allerdings die Krim zu Russland gehöre, sei einiges im Alltag besser geworden, erzählt er. "Die Parks werden gepflegt. Die öffentlichen Anlagen, die Straßen. Da werden Dinge auch repariert." Aber auch Nachteile habe Russland gebracht. Das Schlimmste in der neuen Zeit sei die Bürokratie. "Es gibt alle möglichen Gesetze, man muss ständig Formulare ausfüllen. Das war zu ukrainischen Zeiten nicht der Fall." Als junger Mann kann man heutzutage umgerechnet 400 bis 600 Euro verdienen, so Maxim. Das sei schon in Ordnung – wenn nur das Wohnen nicht so teuer geworden wäre. Eine Wohnung zu kaufen, davon kann er nur träumen. Bis zu 1000 Euro kostet hier der Quadratmeter.

Schwarzmeerflotte im Visier

Deutlich näher am Krieg ist einige Dutzend Kilometer weiter die Hafenstadt Sewastopol. Hier ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Schon seit der Zarenzeit. Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb die Flotte hier, auch als die Krim noch nicht von Russland annektiert war. In den Buchten von Sewastopol kann man die grauen Kriegsschiffe sehen, Fotografieren ist allerdings streng verboten. Vor allem der September und Oktober im letzten Jahr seien schlimm gewesen, erzählt Irina, eine Bewohnerin der Stadt. "Es gab sehr viel Luftalarm, immer wieder die sonore Männerstimme per Lautsprecher, die vor Gefahr warnt."

Irina war gerade in der Stadt unterwegs, als Ende September vermutlich eine Storm-Shadow-Rakete britischer Bauart das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte traf. "Es gab einen Riesenknall", erzählt Irina und deutet auf das zerstörte Gebäude. Es habe Tote gegeben, viele Verletzte.

Auch der berühmten "grünen Männchen", die vor zehn Jahren ohne Hoheitsabzeichen auf der Halbinsel einfielen, wird gedacht.
Angerer Joachim

Wachsende Stadt

Die ukrainischen Angriffe hätten inzwischen abgenommen, so Irina. Ihre Heimatstadt boomt seit der Annexion, die Einwohnerzahl habe sich fast verdoppelt. In der Stadt und ihren Vororten leben fast 420.000 Menschen. Sie fühle sich wohl in Sewastopol. Für ihre 1983 geborene Tochter allerdings sei es schwierig. "Für sie ist durch die Annexion eine Welt zusammengebrochen." Irinas Tochter hat studiert, war zu Ukraine-Zeiten geboren, wollte nach Kiew gehen. Da habe sie als ethnische Russin kaum noch eine Chance.

Dass sich die Krim wirtschaftlich gut entwickelt, bestätigt auch Sergej Aksjonow, der Regierungschef. Die Krim sei "eine sich entwickelnde russische Region. Tatsächlich sind wir heute immer noch eine subventionierte Region, aber trotzdem vervielfachen wir unser Einkommen im Vergleich zu 2014." Vor allem der Tourismus soll Geld bringen.

Speziell in Jalta, der Touristenstadt, wird viel gebaut. Schon zu Sowjetzeiten war Jalta für seine Sanatorien berühmt. Durch den Bau der Krim-Brücke, über den Flughafen von Simferopol, soll der Touristenstrom aus Russland dorthin kommen – nach dem Krieg. Man setze auf "Gastronomie, Wein, Berge und Wandern", so die Pressestelle. Alexej, Taxifahrer in Jalta, sieht die Zukunft nicht ganz so rosig. Die Preise für Lebensmittel seien gestiegen, krank werden dürfe man nicht, wegen der teuren Medikamente. "Ich wünsche mir Stabilität, Frieden und keine Sorgen mehr, ob ich mein Brot kaufen kann", sagt er.

Russen zieht es auf die Krim

Viele Russen, die es sich leisten können, wollen sich auf der Krim ansiedeln. In wunderschöner Landschaft mit subtropischem Klima. Bis 2030 soll der Wohnungsbau auf jährlich eineinhalb Millionen Quadratmeter steigen, 55 Prozent der Bildungseinrichtungen seien seit 2014 saniert worden, man habe Kindergärten und Schulen neu gebaut.

Alina in Simferopol, 32 Jahre alt, profitiert davon. Sie lebt in einer Neubauwohnung, für 36 Quadratmeter hat sie rund 72.000 Euro bezahlt. Die junge Frau arbeitet im Staatsdienst. Der Verdienst sei nicht allzu hoch, in der Privatwirtschaft würde sie mehr verdienen, sagt sie. Aber Alina scheint zufrieden. "Ich bin glücklich, habe eine neue Wohnung, lebe viel besser als früher. Es gibt einfach mehr Möglichkeiten." Und der Krieg? Flugzeuge höre sie manchmal, das sei etwas laut.

Aber sonst? "Mir ist schon klar", gibt sie dem STANDARD-Reporter noch mit auf den Weg, "die Wirkung im Ausland ist so, als ob es hier kein Leben mehr gibt. Als ob alle wegen des Kriegs fliehen würden von der Krim." Dem sei natürlich nicht so. (Jo Angerer von der Halbinsel Krim, 24.2.2024)