Soldat vor Ruine
Der russische Überfall hinterlässt in weiten Teilen der Ukraine nichts als Tod und Verwüstung.
IMAGO/ZUMA Wire

Waffen: Technologische Innovation für Kiew

Mit historischen Ereignissen, sagt Markus Reisner, sei es so eine Sache: Im Nachhinein betrachtet stellten sie sich häufig als logisch dar, mitunter gar als vorhersehbar. Seit zwei Jahren erklärt der Analyst von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, unter anderem im STANDARD, Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Seine Lehre daraus: "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie folgt oft denselben Mustern."

Etwa was die Lage an der Front betrifft. War es im Ersten Weltkrieg der damals neu erfundene Panzer, der etwa an der deutschen Westfront ein Patt löste, könnte es 2024 abermals eine technologische Innovation sein, die wieder Bewegung in den festgefahrenen Abnutzungskrieg bringt. "Das Problem ist, dass es Russland besser als der Ukraine gelingt, das elektromagnetische Feld zu stören, in dem die gegnerischen Drohnen operieren."

Gut möglich, sagt er, dass das Ringen um das 60-Milliarden-Dollar-Hilfspaket in den USA irgendwann als weitere historische Wegmarke bewertet wird – vergleichbar mit dem Abzug der russischen Invasionstruppen vor Kiew 2022 und der gescheiterten Gegenoffensive 2023. Je nachdem, ob es von Donald Trumps Getreuen im Repräsentantenhaus weiter blockiert oder schließlich doch noch beschlossen wird, könnte sich an dem Votum in Washington das Schicksal der Ukraine entscheiden: "Wenn die Munition nicht geliefert wird, ist unter Umständen ein Dammbruch möglich."

Fest stehe, dass die Ukraine den Nachschub besser heute als morgen brauche, um dem russischen Druck zu widerstehen. Nach der US-Wahl könnte es dafür zu spät sein, fürchtet Reisner: "Denn wir wissen nicht, ob die Russen dann nicht schon am Dnjepr stehen."

Rückeroberungen: Geländegewinne unwahrscheinlich

Zwei Jahre nach Kriegsbeginn hält Russland nach wie vor ein gutes Fünftel des ukrainischen Territoriums besetzt. Dass sich daran 2024 viel ändert, ist unwahrscheinlich – sei es in die eine oder in die andere Richtung.

Während Kiews Armee 2022 bedeutende Rückeroberungen gelangen, etwa im Norden bei Charkiw und im Süden bei Cherson, blieben ähnliche Erfolge 2023 aus. Schlimmer noch für die Ukraine: Heuer könnte eine umgekehrte Dynamik entstehen, sagt Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München: "Wenn nicht genug Munition an die Front kommt, wird man gezwungen sein, Städte im Osten aufzugeben" – so wie Awdijiwka, das vergangene Woche geräumt wurde.

Anders als 2023 lautet die Devise nun nicht mehr Angriff, sondern Verteidigung: "Bisher war Kiew sehr erfolgreich mit seiner Strategie, den Russen so hohe Verluste wie möglich zuzufügen. Von jetzt bis etwa September wird es aber eine sehr kritische Phase geben, in der die Ukraine zur aktiven Verteidigung übergehen muss, also die eigenen Stellungen ausbaut und zugleich versucht, die russischen Nachschublinien zu treffen."

Weil aber bis heute nicht die entsprechenden Waffen geliefert wurden, um weit entfernte Depots zu treffen, etwa deutsche Taurus-Marschflugkörper, ist Kiew weiter zu bloßen Nadelstichen verdammt. Frühestens im Herbst werden die ukrainischen Rüstungsfabriken selbst genügend Munition produzieren können, um die schwindenden Lieferungen aus dem Westen auszugleichen, so Masala. Anders als Russland vor einem Jahr können sich die ukrainischen Verteidiger nun außerdem nicht so tief an ihren Linien eingraben, weil der Feind sie dabei bisher erfolgreich etwa mit seiner Luftwaffe stört.

Aufklärung: Drohnen lähmen den Krieg

Dass der Krieg um die Ukraine heuer entschieden wird, glaubt auch Walter Feichtinger nicht. Der ehemalige Bundesheer-Brigadier leitet heute das Center für Strategische Analysen (CSA) in Wien. Für einen großen Vorstoß fehle derzeit sowohl der Ukraine als auch Russland das Potenzial. "Ich erwarte für 2024, dass die Kontaktlinie weitgehend hält, dass die Kämpfe in hoher Intensität weitergeführt werden und dass die strategische Luftkriegsführung in der Tiefe weitergeht", sagt Feichtinger. Kurz: Eine militärische Entscheidung, die dann zu einer politischen Lösung führen könnte, sei nicht in Sicht.

Die schon heute an der Front omnipräsenten Drohnen dürften im Laufe des dritten Kriegsjahrs aber noch an Bedeutung gewinnen. Sowohl die russische als auch die ukrainische Armee setzt eine massive Zahl unbemannter Flugkörper ein, beide investieren zudem intensiv in Forschung und Weiterentwicklung, sowohl was die sogenannten First-Person-View-Drohnen betrifft, die direkt auf das Gefechtsfeld wirken, als auch jene, die hunderte Kilometer in die Tiefe fliegen können. "Die Drohnen lähmen den Krieg, weil sie beiden Seiten erlauben, jegliche Veränderungen in den gegnerischen Truppen sofort zu sehen."

Die Luftwaffe und -abwehr bleibe vorerst die große Schwachstelle der Ukraine, die vom Westen versprochenen F-16-Jets würden daran nicht viel ändern – so sie denn überhaupt bald einsatzbereit seien.

Die Moral der von Russland so brutal überfallenen Bevölkerung sei aber noch immer hoch, sagt Feichtinger. Russlands Luftkampagne gegen die Infrastruktur habe seiner Ansicht nach nicht zu der vom Kreml erhofften Zermürbung der Ukrainerinnen und Ukrainer geführt: "Der Kampf geht weiter."

Geopolitik: Abnutzungskrieg bis zur Wahl in den USA

In einer Prognose sind sich schließlich alle Fachleute einig, mit denen DER STANDARD für diesen Ausblick gesprochen hat: Das Schicksal der Ukraine wird in diesem Jahr nicht nur an der Front und in den Kommandozentralen in Kiew und Moskau entschieden, sondern auch in Washington. Schon jetzt bereitet die Blockade in Washington Kiews Strategen Kopfzerbrechen. Was passiert, sollte Trump tatsächlich wieder Präsident werden, weiß im Moment niemand so genau. Und bis dahin?

"Der Abnutzungskrieg wird wohl bis zur US-Präsidentschaftswahl weitergehen. Danach werden die Karten neu gemischt", sagt der emeritierte Historiker Herfried Münkler von der Humboldt-Universität in Berlin. Die Zeit der ukrainischen Gegenoffensiven dürfte aber vorbei sein – jedenfalls vorerst. Die Devise heißt nun Konsolidieren. "Die Waffenlieferungen, die 2024 wohl noch kommen werden, können zwar die Defensivkraft erhöhen, aber keine Offensiven mehr zulassen." Münklers Prognose für die kommenden Monate: Beide Seiten dürften einander da und dort in kleineren Angriffen austesten, aber keine großen Durchbrüche probieren.

Denn auch die russische Führung stehe seiner Ansicht nach vor dem Problem, keine Generalmobilmachung durchführen zu können, ohne den Unmut in der Bevölkerung zu groß werden zu lassen. Darum kann auch das weit größere Land nicht aus dem Vollen schöpfen, was die Zahl seiner Soldaten betrifft: "Ich gehe davon aus, dass Wladimir Putin dies auch nach der Präsidentschaftswahl nicht wagen wird. Anhand des Zuspruchs für den nun ausgeschlossenen Kandidaten Boris Nadeschdin, der gegen den Krieg aufgetreten ist, hat er deutlich gesehen, dass dies gefährlich für ihn werden könnte."

Diplomatie: Selenskyj kämpft um Aufmerksamkeit

So gut wie ohne Pause kämpfen zehntausende ukrainische Soldaten seit Beginn des Krieges an der Front. Darüber, wie viele zudem bisher getötet oder verletzt wurden, gibt die ukrainische Führung offiziell keine Auskunft. In Kiew demonstrieren Frauen und Mütter der Kämpfer daher seit Monaten für eine bessere Rotation der Truppen. Dass der Druck durch die russischen Invasoren zuletzt aber immer größer wird, erschwert nach Ansicht der Berliner Osteuropa-Expertin Sarah Pagung von der Körber-Stiftung die so dringend nötige Regeneration der ukrainischen Armee: "Die Herausforderung für die nächsten fünf bis sieben Monate ist es nun, dass aus diesem Druck keine größeren Geländegewinne für Russland resultieren und sich die Ukraine gleichzeitig erholen kann." Sollten dann auch die Lieferungen aus dem Westen wieder ansteigen, könnte sich die Lage 2025 auch wieder zugunsten Kiews drehen. "Das sind natürlich viele Wenns", räumt Pagung ein.

Sollten die USA ihre Unterstützung hingegen mittel- und langfristig substanziell kürzen, geriete die angegriffene Ukraine massiv unter Druck. "Europa kann das allein kaum ausgleichen", so die Forscherin. Zudem bestehe auch die Gefahr eines Dominoeffekts, schließlich könnten sich dann auch europäische Staaten dem US-Fatalismus anschließen, wie Pagung es nennt. Die Zusagen für weitere Lieferungen hielten den rhetorischen Unterstützungserklärungen schon jetzt längst nicht mehr stand.

Und: "Für (Präsident Wolodymyr, Anm.) Selenskyj dürfte es schwieriger werden, die Ukraine auf der Agenda der internationalen Politik oben zu halten, weil es nun auch andere Themen gibt, die auf diesen Bühnen besprochen werden, etwa der Krieg in Nahost." (Florian Niederndorfer, 24.2.2024)