„21 Songs in a Public Surrounding“ von Hannes Seidl wurden für ­U-Bahn-Fußgängerzonen konzipiert.
Markus Sepperer

Es begab sich einst beim Steirischen Herbst, dass ein Pianist mit dem Stück Nowhere formatsprengende Ausdauer bewies. Pianist Marino Formenti spielte acht Tage lang zwölf Stunden täglich im Stadtmuseum. Kurzbesuche waren möglich. Es konnte allerdings, wer wollte, auch von 10 bis 22 Uhr bleiben. Formenti lebte, spielte, aß und schlief dort. Es war 2010, zu jener Zeit, als die gegenwärtige Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler Festival-Intendantin war.

Solch exzentrische Konzertformate sind dem Alltag der Musiktempel natürlich schwer abzuringen. Gleichwohl stehen die Veranstalter klassischer Konzerte immer vor Fragen: Wie soll ich in meinem nach dem Schuhschachtelprinzip gebauten Haus Publikum halten und anlocken? Wie kann ich den ewig gleichen kostbaren Werkkanon durch Anbahnungsformate schmackhaft machen? "Wir Veranstalter stehen auch in einem Aufmerksamkeits- und Erlebnisstärkewettbewerb, in dem wir uns nicht teilnahmslos zurücklehnen können", findet auch Klangforum-Intendant Peter Paul Kainrath.

Paradoxerweise helfen Werke der Moderne, die gemeinhin als schwer vermittelbar gelten. Seit langem sprengen sie vielfach das räumliche Format obligater Konzerte – beispielhaft zuletzt etwa beim Festival Wien Modern. "Mit 11.000 Saiten für 50 Klaviere und Ensemble hat uns Georg Friedrich Haas ein Stück geschenkt, in dem das Publikum sich auf eine zirkular-immersive Klangreise begibt, die eher mit einer Raumschiff-Expedition als mit dem Besuch eines Konzertsaals zu tun hat", erzählt Kainrath.

Bernhard Günther, Leiter von Wien Modern, erinnert auch an die Historie: "Mauricio Kagel regte ab 1974 in Köln seine Schüler und Schülerinnen an, Licht und Raum mitzukomponieren. Georg Friedrich Haas schreibt 1981 in der Kurzoper Adolf Wölfli erstmals Licht und Dunkelheit in eine Partitur." Schließlich Stardirigent Claudio Abbado: Er leitete 1989 Karl-Heinz Stockhausens Gruppen für drei im Raum verteilte Orchester aus den 1950er-Jahren und brachte das Publikum so in einen "Hörpark".

Bloß kein Gag

Mittendrin im Werk statt nur davor? Es ist reizvoll, es klingt erhellend. Musikverein-Intendant Stefan Pauli ist auch fürs Durchbrechen von Ritualen, allerdings wären "außergewöhnliche Konzertformate als bloßer Marketing-Gag" langweilig: "Sie sollten künstlerische Ideen verkörpern." Im Musikverein erlebte man tatsächlich das Sinnvolle, als nämlich Komponistin Rebecca Saunders mit ihrer Raumperformance Yes den Goldenen Saal zum Rundum-Erlebnisraum formte.

Auch Konzerthaus-Intendant Matthias Naske schätzt erfrischende Formatideen, sofern die Wahrnehmung nicht diskreditiert werde: "Unter Wahrung der Integrität der akustischen Situation können neue Formate helfen, sich auch auf die soziale Situation eines Konzerts einzulassen." Beispiele zuhauf im Konzerthaus: Bei Im Klang nimmt das Publikum mitten im Orchester Platz. Bei Fridays@7 erlebt es nach dem regulären Konzert der Symphoniker zumeist den Dirigenten mit der Kollegenschaft beim lockeren Musizieren im Garderobenfoyer.

Klassik und Party

Bisweilen heißt Formaterneuerung auch einfach Erlebnisweitung im Sinne eines umfassenden Kulturbegriffs. Beim Konzerthaus-Festival Resonanzen sind Lounge, Kino, Barock-Tanzkurs, ein Essenskonzert und diverse Gesprächsformate Teil des Angebots. Und erst die Zyklen Cuvée 1 und 2! "Sie richten sich an jene, die Musik und Wein schätzen. Es werden neben Musik aus allen Richtungen Weine aus heimischen Weinkellern offeriert", so Naske, der ein neues Veranstaltungsformat für junges Publikum ankündigt. Kurze Orchesterkonzerte würden mit Dancefloor verbunden. Das Konzerthaus als Partylocation.

Nun, eine Mahler-Symphonie im Partyambiente zu hören wird schwierig. Sie taugt nicht als Kulisse. Am konzentrierten Hören und inneren Miterleben führt kein Weg vorbei.

Michael Herschs
Michael Herschs "sew me into a shroud of leaves" dauerte im Prunksaal der National­bibliothek im Rahmen von Wien Modern von fünf Uhr morgens bis 20 Uhr am Abend.
Markus Sepperer

Nach der Sitzsymphonie vielleicht aber – wie im Musikverein – auf ein Gläschen mit dem jeweiligen Orchester und dessen Leitung? Das gab es sogar mit Maler Georg Baselitz, der einen Zyklus programmierte; das gab es mit Dirigent Franz Welser-Möst. Und bald geht es ab 22 Uhr "auf ein Glas" mit dem Mimen Karl Markovics, dem Geiger Aliosha Biz und dem Akkordeonist Krzysztof Dobrek (8. 3.): Das Trio fusioniert Lesung und Konzert. Nach einem intensiven Moderne-Erlebnis lädt auch das Klangforum Wien hernach zu„Tutti“. Mit diesem "schwellenlosen Zusammenkommen nach dem Konzert in einer konzerthauseigenen Bar, auf du und du mit der Künstlerschaft, stillen wir mit Wein und Brot den üblichen Hunger und bedienen gleichzeitig den besonderen Hunger: Fragen an jene zu stellen, welche neu gedachte Musiken hervorbringen." Intendant Kainrath und die seinen stellen sich vor, "dass man mit einem künftig als Beethoven wahrgenommenen Zeitgenossen ein Gläschen heben kann und dabei Erhellendes erfährt".

In diesem Sinne bleibt "unser Café im MuTh auch nach den Vorstellungen geöffnet", erklärt Leiterin Elke Hesse, die im Konzertsaal der Sängerknaben u. a. mit Close up – Musik nah und neu ein Format anbietet, bei dem das Publikum auf der Bühne sitzt und "hinter die Kulissen der Produktionsprozesse blickt."

Einmal alles zusammen

Neue Erlebniswelten schaffen? Eine Hauptaufgabe des MuTh und der Jeunesse, die Birgit Hinterholzer leitet. Sie setzt auf Staged Concerts mit Tanz, Performance, Installation, Film, Schauspiel, Poetry-Slam und Live-Zeichnen. "Erstmals präsentieren wir eine Theatermacherin als Featured Artist, die Konzertsettings entwirft", so Hinterholzer, die auch auf Pop-up!-Konzerte verweist. Etwa auf jenes von Pianistin Natalie Tenenbaum, welche die Ottakringer Brauerei "mit Klassik, Rock, Eigenkompositionen und lustvollen Impros" belebt (29. 5.).

Auch ein Tiroler Kammerorchester liefert Erfrischendes: InnStrumenti, das schon 200 Uraufführungen beauftragt und umgesetzt hat, macht aus Literaten und Literatinnen Performer im Format Klang-Sprache. Open-Air werden Highlights der Opernliteratur in Verbindung von Schauspiel und Musik geboten. Zusätzlich geht es hinauf mit Klassik am Berg, heuer auf 2340 Meter Höhe auf die Axamer Lizum.

Nicht langweilen!

Es gibt ja Druck. Bereits vor Corona musste sich die Branche bemühen, nicht als Relikt dazustehen, wobei Klassik als bloß mühselige Hörarbeit vermittelt wird. In Zeiten inflationsbedingt geleerter Geldbörsen und einer von Streamingdiensten animierten Häppchenhörkultur gilt es, weiter originell zu bleiben. "Das Wichtigste für mich sind die drei goldenen Regeln von Billy Wilder: Du sollst nicht langweilen, nicht langweilen, und du sollst nicht langweilen", scherzt ernsthaft Wien-Modern-Leiter Günther: "Wenn man sich daran halbwegs hält, gibt es wohl auch in den für den Kulturbereich schwierigen Jahren seit der Pandemie keinerlei Mangel an Publikumsinteresse."

Kocht man allerdings "zu lange nach den gleichen Rezepten, schlafen spätestens eine Generation später alle ein, klicken lieber im Internet herum oder gehen halt woanders hin". Offenheit im Blick auf Spielstätten und Formate halte er für "notwendig, damit sich das Interesse an Kultur langfristig in die richtige Richtung entwickelt".

Auch ein Rossballett

Auf interessante Formate setzt vor allem auch das Festival Styriarte: dessen Intendant Mathis Huber meint: "Auf der einen Seite kann ich keine Krise in den bürgerlichen Konzertformaten erkennen. Heute besuchen wahrscheinlich mehr Leute aus allen Gesellschaftsschichten klassische Konzerte als je zuvor, und zwar nicht, weil es sich so gehört, sondern just for fun." Auf der anderen Seite, so Huber, müssten Veranstalter, "die, so wie das Haus Styriarte, viel Musik von außerhalb des bürgerlichen Repertoires präsentieren, gar nicht die große Innovation suchen, sie müssen nur die Musik in ihren ursprünglichen Kontext stellen, und der ist eher nicht im Konzertsaal. ,Musik mitten im Leben' nennen wir das in der Styriarte, vom Rossballett bis zur Rokoko-Soap, von der Nacht im Kloster bis zur Hochzeits-Oper kreieren wir dazu Erlebnis-Rahmen, in denen der Spaß groß ist, die Sachen sich von selbst erklären, und vor allem das Publikum nicht stumm konsumiert, sondern Teil der Party ist."

Ideensuche kann ruhig auch bei John Cage beginnen. Der Pionier des Ungewöhnlichen ist immer eine Inspiration. Im Musikverein bot man Besuchern vor dem Sitzkonzert beim Festival A live die Zuspielbegegnung mit Cages Organ²/aslsp. Das Orgelstück läuft seit 2001 ohne Unterlass in der Sankt-Burchardi-Kirche in Halberstadt. Es endet nach 639 Jahren. Zugegeben, ein spezielles, maschinell umgesetztes Format ... (Ljubiša Tošić, 25.2.2024)