Westberlin, 1987: Angespannt sitzt Geheimagent Alexander Netschajew, kantiges Gesicht, Dreitagebart, in seinem lindgrünen BMW und dreht hastig an einem Zauberwürfel. Der Held der brandneuen russischen Serie "DDR" observiert auf feindlichem bundesdeutschem Gebiet, während über der Sowjetunion ein Kleinflugzeug kreist, in dem eine Massenvernichtungswaffe platziert wurde. Eine Falle der CIA, die zuzuschnappen scheint – schon bereitet sich die sowjetische Armee darauf vor, das Flugzeug abzuschießen. Also gibt der Held Gas, legt halb Berlin in Schutt und Asche und schafft es, blutüberströmt, aber gerade noch rechtzeitig Moskau vor der Waffe im Flugzeug zu warnen. Zuvor hat er den Zauberwürfel gelöst, versteht sich.

Putin
Wladimir Putin überlässt bei seiner Wiederwahl nichts dem Zufall.
Mart Nigola / Delfi Estonia

Die neue Serie "DDR" ist vor wenigen Tagen auf der russischen Streamingplattform Wink angelaufen, und die Hauptfigur – ein sowjetischer Geheimdienstler in Berlin – klingt verdächtig nach Präsident Wladimir Putin, in den Achtzigerjahren sowjetischer Geheimdienstler in der DDR.

Nichts wird dem Zufall überlassen

Eigentlich sollte diese Heldengeschichte auch in Deutschland gedreht werden, erzählt einer der Beteiligten, am Ende habe man die Kulisse aber in Russland nachgestellt, aus offensichtlichen Gründen. Der Kreml baut sich die Welt, wie er sie braucht – nicht nur im Fernsehen. Dass diese Serie gerade jetzt, kurz vor der Präsidentschaftswahl in Russland, angelaufen ist, finanziert aus staatlichen Töpfen – das ist kein Zufall. Sondern Teil der strategischen Planung der russischen Regierung, die den Erfolg Putins bei den Wahlen Mitte März sichern soll, bei denen der Kremlherrscher ja nur ein weiteres Mal antreten kann, weil eigens dafür die Verfassung geändert wurde.

Erst Anfang Dezember hatte Putin seine erneute, inzwischen fünfte Kandidatur verkündet, in einem Auftritt, der mit Farce wohl am treffendsten beschrieben ist: Obwohl längst nicht nur Insidern klar war, dass er ein weiteres Mal kandidieren würde, ließ er sich zuerst öffentlich von einem Oberst auffordern, doch wieder anzutreten – Russland brauche ihn doch!

Putin stimmte zu. Der Oberst ist inzwischen Vorsitzender seiner Wahlkampfzentrale – was wohl auch kein Zufall ist.

Niemand bei Sinnen wird anzweifeln, dass Putin, der Russland seit 1999 abwechselnd als Präsident und Ministerpräsident regiert, die Wahlen wieder haushoch gewinnen wird – zuletzt, 2018, hatte er mehr als 76 Prozent der Stimmen errungen. In ähnlicher Höhe wird sein Sieg auch dieses Mal erwartet, auch weil Putin derartiges ungern dem Zufall überlässt.

"Vorrangige Projekte"

Das belegt erneut ein Leak von 30 geheimen Kreml-Dokumente, die dem STANDARD und weiteren Medienpartnern vorliegen. Sie geben einen exklusiven Einblick, wie Putins Regierung hunderte Millionen ausgibt, um dem russischen Despoten ein glänzendes Wahl-Ergebnis zu sichern. Die Unterlagen – es handelt sich um teils nur wenige Monate alte Budgetplanungen, Exceltabellen, Strategiepapiere und Präsentationen – stammen aus der Präsidialverwaltung des Kreml. Genauer gesagt aus dem Bereich jenes Mannes, der für Putins Innenpolitik verantwortlich ist: Sergej Kirijenko, stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, sanktioniert von der Europäischen Union und den USA. Die Dokumente reichen zurück bis 2020 und wurden dem estnischen Mediums "Delfi" zugespielt, welches sie dann mit dem STANDARD und weiteren internationalen Partnern teilte.

DER STANDARD hat die geleakten Unterlagen eingehend geprüft und hält sie für authentisch. Das bestätigen auch zwei Russland-Experten, die die Dokumente in Teilen gesichtet haben. Zudem konnten viele der Budgetposten im offiziell verabschiedeten Staatshaushalt verifiziert werden.

Eines der Schlüsseldokumente stammt aus dem September 2023 und ist überschrieben mit "Zusätzliche Mittel für vorrangige Projekte", eine Art interner Nachtragshaushalt. Es zeigt drei Bereiche, die für den Kreml demnach Priorität haben: "Präsidentschaftswahlen", "Informations- und Ideologiekrieg" sowie "Neue Regionen". "Neue Regionen" ist Kreml-Sprech für: besetztes ukrainisches Gebiet. Die anstehende Wahl ist die erste, bei der auch dort der russische Präsident gewählt werden soll.

"Geistige und moralische Bildung"

Im Zentrum der Planungen stehen vermeintlich unabhängige Organisationen, die tatsächlich aber mit Unterstützung des Kreml gegründet und finanziert sind. Eine davon ist das 2015 gegründete "Institut für Internetentwicklung", kurz IRI, das die eingangs erwähnte DDR-Serie mitproduziert hat und seit 2020 auf Anweisung von Putin "Inhalte zur geistigen und moralischen Bildung junger Menschen" erschaffen soll. Mittlerweile hat sich das Budget des Instituts siebenfacht, und das Führungspersonal spricht offen darüber, dass mit einem Großteil der Gelder "nationale Inhalte" finanziert werden sollen. Die Priorität ist hoch: Von den 432 Millionen Euro, die der Kreml laut des Leaks in der Rubrik "Wahlen" einplant, bekommt das IRI rund 179 Millionen.

Serie DDR
Die Serie "DDR" soll offenbar Putin glorifizieren.
Faksimilie

In den Unterlagen findet sich die Präsentation "Kreative Inhalte für die Wahlen", erstellt in Co-Autorenschaft vom IRI-Chef und einem Abteilungsleiter der Präsidialverwaltung. Dort ist festgehalten, welche Filme bis zu den Präsidentschaftswahlen produziert werden sollen. Seit Ende 2022 gibt es laut dem Leak sogar eine eigens geschaffene "Redaktionsabteilung" mit 15 Mitarbeitern, "um die Kontrolle in allen Phasen der Produktion zu haben". Staatsfernsehen zu Ende gedacht, sozusagen. Akribisch ist festgehalten, welcher Film wann veröffentlicht und welches Ziel damit jeweils verfolgt wird: "Schutz der nationalen Interessen", beispielsweise. Über die Serie "DDR" heißt es, sie solle "ein positives Bild eines Staatssicherheitsmitarbeiters" vermitteln.

Infokrieg im Netz

Damit diese Filme auch die gewollte Wirkung erzielen, sollen sie in Russland verbreitet werden. Zuständig dafür: "Dialog", eine andere vermeintlich unabhängige Organisation, mittlerweile von der EU sanktioniert. Auf dem Papier soll sie, zusammen mit einer Schwesterorganisation, den Austausch zwischen Regierung und Bürgern erleichtern. Die geleakten Dokumenten zeigen, dass der Kreml diesen direkten Draht auch ganz anders nutzt – und massenweise Nachrichten aussendet, die in sein Weltbild passen.

Das Internet sei für sie mittlerweile das "wichtigste Kommunikationsmittel", so präsentiert es einer der Verantwortlichen in den Dokumenten. Seit 2022 sei das Ziel "Informationskrieg". Das ist dem Kreml offenbar viel Geld wert: Im Budgetbereich "Informations- und Ideologiekrieg" ist dafür der mit Abstand größte Betrag vorgesehen: 67,7 Millionen Euro für 2024, ähnliche Summen in den Folgejahren. Weder der Kreml noch die Organisationen haben auf Anfragen reagiert.

Doch warum der ganze Aufwand, wo doch nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre kaum jemand mit fairen Wahlen rechnet? Alexej Nawalny ist tot, der liberale Oppositionelle Boris Nadeschdin wurde nicht zugelassen, die verbliebenen Gegenkandidaten gelten als aussichtslos – und der Staatsapparat hat seine Möglichkeiten der Beeinflussung sicher noch nicht ausgeschöpft. "In gewisser Weise wird versucht, die Wahlmanipulation an den Wahltagen zu minimieren, durch etwas, was man als Vorabmanipulation bezeichnen könnte", so der Historiker Mark Galeotti, einer der genauesten Russland-Kenner Europas. Es gehe darum, die Menschen im Vorfeld zu konditionieren, um die Kluft zwischen dem tatsächlichen und dem verkündeten Wahlergebnis so gering wie möglich zu halten. Zu tief sitze bei Putin noch immer die Angst vor Protesten wie nach den Präsidentschaftswahlen 2011, den größten seit Zusammenbruch der Sowjetunion.

"Meinungsführer" aus Europa

Dabei hat der Kreml sogar deutsche Helfer: 2022 lässt sich der Regisseur Wilhelm Domke-Schulz in Sewastopol interviewen, auf der annektierten Krim. Mit Schiebermütze und grauem Jackett sitzt er zwischen den weißen Säulen einer sonnigen Veranda. Das Video erscheint auf dem Telegram-Kanal Lomovka, er erzählt dort den gut 200.000 Abonnenten des Kanals, in Deutschland würden russische Menschen terrorisiert, Ukrainer nennt er "Faschisten". Für den Kreml ist das – laut einer internen PowerPoint-Präsentation – ein leuchtendes Beispiel für einen ihm wohlgesonnen "Meinungsführer", die eine von ihm finanzierte Organisationen teilweise auch ausbildet und unterstützt. Domke-Schulz antwortete auf Anfrage, er wisse weder von der Präsentation, noch kenne er die entsprechende Organisation oder den Telegram-Kanal, auf dem das Interview mit ihm erschienen ist.

Das dritte priorisierte Projekt der Präsidialverwaltung sind die besetzten Gebiete – hier richten sich die finanzierten Angebote vor allem an Jugendliche. Hunderttausende fließen in Jugendzentren, Kunststipendien, Wettbewerbe und Organisationen, die Jugendlichen "patriotische Erziehung" oder sogar militärische Fähigkeiten vermitteln sollen. Bis Ende 2025 soll schon jeder fünfte Jugendliche in einem der Programme mitgemacht haben, so das Ziel.

Martin Kragh vom Stockholmer Centre for Eastern European Studies sieht hier eine generelle Entwicklung. "Es reicht nicht mehr aus, dass man nur schweigt und sich nicht widersetzt. Man muss sich tatsächlich an den politischen Organisationen beteiligen", so Kragh. "Russland verwandelt sich tatsächlich mehr und mehr in ein totalitäres System."

Zuletzt lässt sich aus dem Leak herauslesen, dass in den besetzten Gebieten eine Überwachungssoftware zum Einsatz kommen soll, die, so heißt es zumindest in den Dokumenten, stolze 85 Prozent der Social-Media-Profile überwachen soll. Und angeblich schon jetzt über 50 Millionen Profile im Blick habe, also etwa jeden dritten Russen. Das Ziel: "über aufkommende Bedrohungen und neue destruktive Erscheinungen zu informieren". Gleichzeitig sollen 67 Teams unterwegs sein, die im besetzten Gebiet das ukrainische Satellitenfernsehen gegen russisches ersetzen – indem die Satellitenschüsseln getauscht werden. Und online können die Bewohner im besetzten Donbass vor der Präsidentschaftswahl die Heldentaten des russischen Leinwandspions Alexander Netschajew aus der Serie "DDR" sowie so auch verfolgen. Es ist an alles gedacht. (Christo Buschek, Jonas Halbe, Carina Huppertz, Hannes Munzinger, Frederik Obermaier, Bastian Obermayer, Holger Roonemaa, Elisa Simantke, 26.2.2024)