Mit der Methode der Langzeitbelichtung kann man visualisieren, wie
Mit der Methode der Langzeitbelichtung kann man visualisieren, wie "Freude" aussieht.
Westlicht / Mariko Tagashira

Wie kann man fotografisch festhalten, was in der Gesellschaft unsichtbar ist? In ihrer Ausstellung An die Freude hat die japanische Fotografin Mariko Tagashira den White Hands Chorus Nippon abgebildet. Bereits seit mehreren Jahren begleitet sie den Kinderchor, besonders ist, dass in ihm Menschen mit und ohne Behinderung Seite an Seite singen. Die Gehörlosen singen dabei in Gebärdensprache. Genau diese Gebärden sind es, die Tagashira mithilfe von Langzeitbelichtung und kleinen Leuchtdioden an den Fingerspitzen ins Sichtbare holt. Das Ergebnis sind in allen Farben strahlende, dynamische Lichtspuren, die eine Geschichte von Lebensfreude und Glückseligkeit erzählen – und mancherlei über Ludwig van Beethoven.

Der gehörlose Visionär ist es, dem die Ausstellung gewidmet ist: Vor 200 Jahren feierte seine 9. Sinfonie ihre Uraufführung in Wien – die letzte, die der damals schon fast ertaubte Komponist vor seinem Tod 1827 noch vollenden konnte. Im berühmten vierten Satz vertonte Beethoven sein Lieblingsgedicht, Friedrich Schillers Ode An die Freude, und fast jeder Mensch kennt diese Melodie; als Soundtrack der Gewaltorgien in Stanley Kubricks A Clockwork Orange, als Hymne der Europäischen Union oder auch als österreichische Version „Alle Menschen San Ma zwider" von Kurt Sowinetz.

In Japan genießt die Neunte einen besonderen Status: Gegen Ende des Ersten Weltkriegs probten nämlich deutsche Soldaten im japanischen Kriegsgefangenenlager Bandō genau dieses Stück. Am 1. Juni 1918 führten sie es schließlich – noch in Gefangenschaft – auf. Als sie Monate später Japan verlassen durften, blieb Beethovens Symphonie dort. Noch heute wird sie gerne zum Jahreswechsel von Orchestern im ganzen Land gespielt. Aber auch täglich, zum Beispiel in der Telefonwarteschleife der Stadtverwaltung von Naruto – Beethovens Opus magnum ist zum omnipräsenten Teil des Alltags geworden.

Visualisierte Gebärden

Im Hauptraum der Ausstellung sieht man in chronologischer Reihenfolge Textauszüge und die visualisierten Gebärden in allen Farben und Formen. "Freude, schöner Götterfunken" steht da im Bildtext, und darüber hängt die Fotografie einer Frau, die erhabene Gesten in die Luft zeichnet. Es gibt aber auch Soundinstallationen und einen interaktiven Tisch, an dem man die Symphonie ertasten und neu anordnen kann. Alle Sinne werden angesprochen. Der Nebenraum zeigt eine analoge Schwarzweiß-Fotoserie, große Porträtaufnahmen von Gesichtern, und Mitglieder des Chors drücken ihre liebsten Worte aus der 9. Symphonie aus. Nur durch Gestik, Mimik und Körperhaltung.

Fotografie Beethoven Westlicht Tagashira
Freude, du schönster aller Götterfunken: Mariko Tagashira bildet Chorsängerinnen fotografisch ab, die ihren Gesang mittels Gebärden ausdrücken.
Westlicht / Mariko Tagashira

Durch eine lange Belichtungszeit beeindruckend wirkende Lichtspielereien zu schaffen ist jener Kunstgriff, den jeder Hobbyfotograf als Erstes erlernt: wenn er sich bei seiner Spiegelreflexkamera vom Automatikmodus zum ersten Mal in den manuellen wagt. In An die Freude geht es nicht darum, das fotografische Rad neu zu erfinden. Es geht um Inklusion und darum, diese zu visualisieren. Dafür ist das die perfekte Methode. Mariko Tagashira bildet diese Kinder nicht nur ab – sie verleiht ihnen auch eine Stimme. (Jakob Thaller, 26.2.2024)