Ein Erntehelfer sticht Spargel aus dem Boden.
In Marokko wurden Erntehelfer für Frankreich angelockt. Unter prekären Bedingungen müssen sie arbeiten, Geld sehen sie nicht. Kein Einzelfall, wie die Gewerkschaft sagt.
IMAGO/Rupert Oberhäuser

"Wenn wir wenigstens unsere Familien sehen könnten!", seufzt Driss Et-Tazy. Der Marokkaner lebt seit vergangenem Mai von den Seinen getrennt. Wobei "leben" etwas viel gesagt ist. Et-Tazy und 16 Arbeitskollegen, alle aus dem Nordosten Marokkos in die Provence gekommen, um Feldarbeit zu leisten, fristen ihr Dasein ohne Privatsphäre und ohne Küche, ohne Wasser und Strom. Eine benachbarte Agrargenossenschaft hilft, so weit es geht, aus; die Hilfskette Restaurants du Coeur stellt ihnen Mahlzeiten zur Verfügung. Die 17 leben in einem Gebäude, das für eine kleine Familie gedacht ist. All dies mindestens noch bis Ende April – dann soll ein Gericht in Avignon einen Grundsatzentscheid in ihrer Angelegenheit fällen.

Ihre Angelegenheit, oder soll man sagen ihre Geschichte, ist leider verbreiteter, als man meinen würde. Im vergangenen Jahr wurden die 17 in ihren Heimatorten in der marokkanischen Provinz Taza von einem Franzosen angeworben. Um die Reise und die – in Frankreich immer sehr aufwendigen – Formalitäten zu erledigen, musste jeder mehrere Tausend Euro aufbringen. Sie verkauften dafür Autos oder mehrere Tiere, nahmen auch Kredite auf. Hochverschuldet begannen sie ab Mai 2023 für einen Grundbesitzer in der provenzalischen Gemeinde Malemort-du-Comtat zu arbeiten. "Wir sammelten bis im Oktober Spargel, Zuchini, Kirschen und dann Trauben", erinnert sich Driss Et-Tazy. Geld sahen sie in dieser Zeit nie. Der Arbeitgeber erklärte gegenüber dem lokalen Fernsehsender France-Bleu, er könne die Saläre nur per Banküberweisung auszahlen, doch das sei unmöglich, da maghrebinische Saisonarbeiter in Frankreich kein Konto eröffnen dürften.

Erste Verurteilungen

Das sei ein "Vorwand" gewesen, um nicht zu zahlen, meint Hervé Proksch von der Gewerkschaft Force Ouvrière (FO). Gebeten, sich um den Fall zu kümmern, gelangte er an die Prud'hommes in Avignon. Dieses arbeitsrechtliche Schiedsgericht behandelt nun nacheinander jeden einzelnen der 17 juristisch teils unterschiedlichen Fälle. In den fünf ersten Dossiers hat es den Früchte- und Gemüseproduzenten verurteilt, den Arbeitern bis zu 8000 Euro zu bezahlen.

Erhalten haben sie bisher nur einen Bruchteil. Denn ihr Arbeitgeber hat sich inzwischen für zahlungsunfähig erklärt. Das hat die Auszahlung noch vorhandener Gelder zur Folge – aber in keinem Fall bis zum geschuldeten Betrag.

Aus diesem Grund bleiben alle Marokkaner in Frankreich. "Wenn wir zu unseren Familien zurückkehren, kommen wir kaum mehr zurück und verlieren das Geld", erklärt Driss Et-Tazy. Zu Hause müssten er und seine Kumpels zuerst einmal ihre Schulden begleichen. Also bleiben sie in einem Haus, das der Frau des Grundbesitzers gehört, wie der stämmige Marokkaner sagt. Mehr als Daumendrehen und Teetrinken sei nicht drin: Mit ihrem Status von Saisonarbeitern dürfen sie bis zum definitiven Gerichtsurteil nicht arbeiten. "Wir sind völlig blockiert", sagt Driss Et-Tazy, und auch durch das Telefon dringt der Verdruss hinter seiner Freundlichkeit durch.

Geballtes Maß an Ausbeutung

Gefragt, ob das Schicksal dieser Arbeiter auf den reichen Feldern der Provence einen Einzelfall darstellt, verneint Proksch. Er fügt an, er habe in dreißig Jahren noch nie ein so geballtes Maß an Ausbeutung erlebt. Dass von den 30.000 mehrheitlich marokkanischen Feldarbeitern in Südfrankreich Einzelne nicht oder schlecht bezahlt würden, komme immer wieder vor, und zwar vor allem im Gemüseanbau und der Forstwirtschaft. Meist handelten spanische Interimsagenturen dem Gesetz zuwider. Dass ein französischer Landwirt eigenhändig und gleich 17 Arbeiter ins Land locke, ohne sie zu bezahlen, sei aber ein Novum. Es zeugt auch vom zunehmenden Mangel an Handarbeitern in der französischen Landwirtschaft – und der Verwilderung der Arbeitssitten.

Die Staatsanwaltschaft in Carpentras hat scharf reagiert: Sie hat den 74-jährigen Anbauer und seinen Buchhalter Mitte Jänner festgenommen und ein Verfahren wegen "traite humaine" – definiert als "Menschenhandel" mit dem Ziel der "Ausbeutung" – eröffnet; dazu kommt der Tatbestand "unwürdiger Beherbergung". Die Beschuldigten sind mittlerweile wieder frei, ihre Geschäfte werden aber seit ihrer Zahlungsfähigkeit von einem Justizverwalter geführt.

Präzedenzwirkung

Ein anderer Gewerkschafter, Jean-Yves Constantin von der CFDT, erklärt im Gespräch, dass das erwartete Urteil von großer Bedeutung sei, da ihm Präzedenzwirkung zukomme. Denn er ist sich sicher: "Diese Art von Behandlung ist leider am Zunehmen." Für die betroffenen Marokkaner sei die Situation materiell, aber auch mental eine große Belastung, da die Saisoniers zu aller Knochenarbeit hinzu auch noch verschuldet seien. "Sie haben das Gefühl, die Hoffnung ihrer Familien, für die sie aufkommen, enttäuscht zu haben."

In Marokko selbst stößt das harte Los der 17 Feldarbeiter auf weite Beachtung. Onlineportale wie bladi.net berichten ausführlich. Vielleicht auch, weil Fälle schlechter Behandlung marokkanischer Saisonarbeiter in Frankreich bisher seltener waren als auf spanischen Feldern. Dafür sorgte bisher auch das französische System der Arbeitsinspektion und -justiz, das dem Gesetz zur Durchsetzung verhilft.

Die Zahl marokkanischer Saisoniers in Frankreich ist in den letzten sechs Jahren von 18.000 auf 30.000 gestiegen. Im vergangenen Herbst wurden bis ins Bordeaux-Weingebiet Fälle von Menschenhandel und Ausbeutung bekannt. Betroffen war in einem Fall sogar das renommierte Weingebiet Saint-Emilion. Eine ähnliche Gerichtsklage wurde in den Rebbergen des Champagne-Gebiets eingereicht. (Stefan Brändle aus Paris, 26.2.2024)